Die Demokratie ohne das nützliche Gegengewicht eines Monarchen ist masslos in der Anerkennung und in der Verurtheilung, führt zu Parlamentsgeschwätz und zur hässlichen Kategorie der Berufspolitiker. Auch sind die jetzigen Völker nicht geeignet für die unbeschränkte Demokratie und ich glaube, sie werden zukünftig immer weniger dazu geeignet sein. Die reine Demokratie setzt nämlich sehr einfache Sitten voraus und unsere Sitten werden mit dem Verkehr und mit der Cultur immer complicirter. Le ressort d’une démocratie est la vertu, sagt der weise Montesquieu. Und wo findet man diese Tugend, die politische meine ich? Ich glaube nicht an unsere politische Tugend, weil wir nicht anders sind, als die anderen modernen Menschen, und weil uns in der Freiheit zunächst der Kamm schwellen würde. Das Referendum halte ich für unverständig, denn in der Politik gibt es keine einfachen Fragen, die man blos mit Ja und Nein beantworten kann. Auch sind die Massen noch ärger als die Parlamente, jedem Irrglauben unterworfen, jedem kräftigen Schreier zugeneigt. Vor versammeltem Volke kann man weder äussere noch innere Politik machen.
Politik muss von oben herab gemacht werden. Im Judenstaate soll darum doch Niemand geknechtet werden, denn jeder[1] Jude kann aufsteigen, jeder wird aufsteigen wollen. So muss[2] ein gewaltiger Zug nach oben in unser Volk kommen. Jeder Einzelne wird nur glauben, sich selbst zu heben, und dabei wird die Gesammtheit gehoben. Das Aufsteigen ist in sittliche, dem Staate nützliche, der Volksidee dienende Formen zu binden.
Darum denke ich mir eine aristokratische Republik. Das entspricht auch dem ehrgeizigen Sinne unseres Volkes, der jetzt zu alberner Eitelkeit entartet ist. Manche Einrichtung Venedigs schwebt mir vor; aber alles, woran Venedig zugrunde ging, ist zu vermeiden. Wir werden aus den geschichtlichen Fehlern Anderer lernen, wie aus unseren eigenen. Denn wir sind ein modernes Volk und wollen das modernste werden. Unser Volk, dem die Society das neue Land bringt, wird auch die Verfassung, die ihm die Society gibt, dankbar annehmen. Wo sich aber Widerstände zeigen, wird die Society sie brechen. Sie kann sich im Werke durch beschränkte oder böswillige Individuen nicht stören lassen.
Anmerkungen (Wikisource)
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_74.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)