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Seite:DE Herzl Judenstaat 68.jpg

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wir ja, sehen wir ja. Colonien fallen vom Mutterlande ab, Vasallen reissen sich vom Suzerän[1] los, neuerschlossene Territorien werden gleich als freie Staaten gegründet. Der Judenstaat ist allerdings als eine ganz eigenthümliche Neubildung auf noch unbestimmtem Territorium gedacht. Aber nicht die Länderstrecken sind der Staat, sondern die durch eine Souveränetät zusammengefassten Menschen sind es.

Das Volk ist die persönliche, das Land die dingliche Grundlage des Staates. Und von diesen beiden Grundlagen ist die persönliche die wichtigere. Es gibt zum Beispiel eine Souveränetät ohne dingliche Grundlage, und sie ist sogar die geachtetste der Erde: es ist die Souveränetät des Papstes.

In der Wissenschaft vom Staate herrscht gegenwärtig die Theorie der Vernunftnothwendigkeit. Diese Theorie reicht aus, um die Entstehung des Staates zu rechtfertigen, und sie kann nicht geschichtlich widerlegt werden, wie die Vertragstheorie. So weit es sich um die Entstehung des Judenstaates handelt, befinde ich mich in dieser Schrift vollkommen auf dem Boden der Vernunftnothwendigkeits-Theorie. Diese weicht aber dem Rechtsgrunde des Staates aus. Der modernen Anschauung entsprechen die Theorie der göttlichen Stiftung, die der Uebermacht, die Patriarchal-, Patrimonial- und Vertragstheorie nicht. Der Rechtsgrund des Staates wird bald zu sehr in den Menschen (Übermachts-, Patriarchal- und Vertragstheorie), bald rein über den Menschen (göttliche Stiftung), bald unter den Menschen (dingliche Patrimonialtheorie) gesucht. Die Vernunftnothwendigkeit lässt die Frage bequem oder vorsichtig unbeantwortet. Eine Frage, mit der sich die grössten Rechtsphilosophen aller Zeiten so tief beschäftigt haben, kann jedoch nicht ganz müssig sein. Thatsächlich liegt im Staat eine Mischung von Menschlichem und Uebermenschlichem vor. Für das zuweilen drückende Verhältniss, in welchem die Regierten zu den Regierenden stehen, ist ein Rechtsgrund unerlässlich. Ich glaube, er kann in der „negotiorum gestio“ gefunden werden. Wobei man sich die Gesammtheit der Bürger als Dominus negotiorum und die Regierung als den Gestor zu denken hat.

Der wunderbare Rechtssinn der Römer hat in der negotiorum gestio ein edles Meisterwerk geschaffen. Wenn das Gut eines Behinderten in Gefahr ist, darf Jeder hinzutreten und es retten. Das ist der Gestor, der Führer fremder Geschäfte. Er hat keinen Auftrag, das heisst keinen menschlichen Auftrag. Sein Auftrag ist ihm von einer höheren Nothwendigkeit ertheilt. Diese höhere Nothwendigkeit kann für den Staat auf verschiedene Weise formulirt werden und wird auch auf den einzelnen


Empfohlene Zitierweise:
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_68.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2018)
  1. Suzerän: Oberherr, siehe Suzeränität.