brauchen nur soviel zu thun wie bisher und die Auswanderlust der Juden wird erwachen, wo sie nicht besteht und sich verstärken, wo sie schon vorhanden ist. Wenn die Juden jetzt in antisemitischen Ländern verbleiben, so geschieht das hauptsächlich aus dem Grunde, weil selbst die historisch Ungebildeten wissen, dass wir uns durch die zahlreichen Ortswechsel in den Jahrhunderten nie dauernd geholfen haben. Gäbe es heute ein Land, wo man die Juden willkommen hiesse und ihnen auch viel weniger Vortheil böte, als im Judenstaate, wenn er entsteht, gesichert sind, so fände augenblicklich ein starker Zug von Juden dahin statt. Die Aermsten, die nichts zu verlieren haben, würden sich hinschleppen. Ich behaupte aber und Jeder wird ja bei sich wissen, ob es wahr ist, dass die Auswanderlust wegen des Druckes, der auf uns lastet, bei uns selbst in wohlhabenden Schichten vorhanden ist. Nun würden ja schon die Aermsten zur Gründung des Staates genügen, ja sie sind das tüchtigste Menschenmaterial für eine Landnahme, weil man zu grossen Unternehmungen ein bischen Verzweiflung in sich haben muss.
Aber indem unsere Desperados durch ihr Erscheinen, durch ihre Arbeit den Werth des Landes heben, machen sie allmälig auch für Besitzkräftigere die Verlockung entstehen, nachzuziehen.
Immer höhere Schichten werden ein Interesse bekommen, hinüberzugehen. Den Zug der Ersten, Aermsten werden ja Society und Company gemeinsam leiten und dabei doch wohl die Unterstützung der schon bestehenden Auswanderungs- und Zionsvereine finden.
Wie lässt sich eine Menge ohne Befehl nach einem Punkte hin dirigiren?
Es gibt einzelne jüdische Wohlthäter in grossem Stile, welche die Leiden der Juden durch zionistische Versuche mildern wollen. Solche Wohlthäter mussten sich schon mit dieser Frage beschäftigen, und sie glaubten, sie zu lösen, wenn sie den Auswanderern Geld oder Arbeitsmittel in die Hand gaben. Der Wohlthäter sagte also: „Ich zahle den Leuten, damit sie hingehen.“
Das ist grundfalsch und mit allem Gelde der Erde nicht zu erschwingen.
Die Company wird im Gegentheil sagen: „Wir zahlen ihnen nicht, wir lassen sie zahlen. Nur setzen wir ihnen etwas vor.“
Ich will das an einem scherzhaften Beispiele anschaulich machen. Einer dieser Wohlthäter, den wir den Baron nennen wollen, und ich möchten eine Menschenmenge an einem heissen Sonntagnachmittag auf der Ebene von Longchamp bei Paris haben. Der Baron wird, wenn er jedem Einzelnen 10 Francs
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_60.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)