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Seite:DE Herzl Judenstaat 16.jpg

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Dazu muss vor Allem in den Seelen tabula rasa gemacht werden von mancherlei alten, überholten, verworrenen, beschränkten Vorstellungen. So werden dumpfe Gehirne zunächst meinen, dass die Wanderung aus der Cultur hinaus in die Wüste gehen müsse. Nicht wahr! Die Wanderung vollzieht sich mitten in der Cultur. Man kehrt nicht auf eine niedrigere Stufe zurück, sondern ersteigt eine höhere. Man bezieht keine Lehmhütten, sondern schönere, modernere Häuser, die man sich neu baut und ungefährdet besitzen darf. Man verliert nicht sein erworbenes Gut, sondern verwerthet es. Man gibt sein gutes Recht nur auf gegen ein besseres. Man trennt sich nicht von seinen lieben Gewohnheiten, sondern findet sie wieder. Man verlässt das alte Haus nicht, bevor das neue fertig ist. Es ziehen immer nur diejenigen, die sicher sind, ihre Lage dadurch zu verbessern. Erst die Verzweifelten, dann die Armen, dann die Wohlhabenden, dann die Reichen. Die Vorangegangenen erheben sich in die höhere Schichte, bis diese letztere ihre Angehörigen nachschickt. Die Wanderung ist zugleich eine aufsteigende Classenbewegung.

Und hinter den abziehenden Juden entstehen keine wirthschaftlichen Störungen, keine Krisen und Verfolgungen, sondern es beginnt eine Periode der Wohlfahrt für die verlassenen Länder. Es tritt eine innere Wanderung der christlichen Staatsbürger in die aufgegebenen Positionen der Juden ein. Der Abfluss ist ein allmäliger, ohne jede Erschütterung, und schon sein Beginn ist das Ende des Antisemitismus. Die Juden scheiden als geachtete Freunde, und wenn Einzelne dann zurückkommen, wird man sie in den civilisirten Ländern genau so wohlwollend aufnehmen und behandeln, wie andere fremde Staatsangehörige. Diese Wanderung ist auch keine Flucht, sondern ein geordneter Zug unter der Controle der öffentlichen Meinung. Die Bewegung ist nicht nur mit vollkommen gesetzlichen Mitteln einzuleiten, sie kann überhaupt nur durchgeführt werden unter freundlicher Mitwirkung der betheiligten Regierungen, die davon wesentliche Vortheile haben.

Für die Reinheit der Idee und die Kraft ihrer Ausführung sind Bürgschaften nöthig, die sich nur in sogenannten „moralischen“ oder „juristischen“ Personen finden lassen. Ich will diese beiden Bezeichnungen, die in der Juristensprache häufig verwechselt werden, auseinanderhalten. Als moralische Person, welche Subject von Rechten ausserhalb der Privat-Vermögenssphäre ist, stelle ich die Society of Jews auf. Daneben steht die juristische Person der Jewish Company, die ein Erwerbswesen ist.


Empfohlene Zitierweise:
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_16.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2018)