sind; denn auf sie drückt zunächst der Wettbewerb gleichartiger wirthschaftlicher Individuen, die zudem auch noch den Antisemitismus importiren oder den vorhandenen verschärfen. Es ist ein heimlicher Jammer der Assimilirten, der sich in „wohlthätigen“ Unternehmungen Luft macht. Sie gründen Auswanderungsvereine für zureisende Juden. Diese Erscheinung enthält einen Gegensinn, den man komisch finden könnte, wenn es sich nicht um leidende Menschen handelte. Einzelne dieser Unterstützungsvereine sind nicht für, sondern gegen die verfolgten Juden da. Die Aermsten sollen nur recht schnell, recht weit weggeschafft werden. Und so entdeckt man bei aufmerksamer Betrachtung, dass mancher scheinbare Judenfreund nur ein als Wohlthäter verkleideter Antisemit jüdischen Ursprungs ist.
Aber selbst die Colonisirungsversuche wirklich wohlmeinender Männer haben sich bisher nicht bewährt, obwohl es interessante Versuche waren. Ich glaube nicht, dass es sich Dem oder Jenem nur um einen Sport gehandelt habe; dass Der oder Jener arme Juden wandern liess, wie man Pferde rennen lässt. Dazu ist die Sache denn doch zu ernst und traurig. Interessant waren diese Versuche insofern, als sie im Kleinen die praktischen Vorläufer der Judenstaats-Idee vorstellten. Und sogar nützlich waren sie insofern, als dabei Fehler gemacht wurden, aus denen man bei einer Verwirklichung im Grossen lernen kann. Freilich ist durch diese Versuche auch Schaden gestiftet worden. Die Verpflanzung des Antisemitismus nach neuen Gegenden, welche die nothwendige Folge einer solchen künstlichen Infiltration ist, halte ich noch für den geringsten Nachtheil. Schlimmer ist, dass die ungenügenden Ergebnisse bei den Juden selbst Zweifel an der Brauchbarkeit des jüdischen Menschenmaterials hervorriefen. Diesem Zweifel wird aber bei den Verständigen durch folgende einfache Argumentation beizukommen sein: Was im Kleinen unzweckmässig oder undurchführbar ist, muss es noch nicht im Grossen sein. Ein kleines Unternehmen kann unter denselben Bedingungen Verlust bringen, unter denen ein grosses sich rentirt. Ein Bach ist nicht einmal mit Kähnen schiffbar; der Fluss, in den er sich ergiesst, trägt stattliche eiserne Fahrzeuge.
Niemand ist stark oder reich genug, um ein Volk von einem Wohnort nach einem anderen zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die Staatsidee hat wohl eine solche Gewalt. Die Juden haben die ganze Nacht ihrer Geschichte hindurch nicht aufgehört, diesen königlichen Traum zu träumen: „Ueber’s Jahr in Jerusalem!“ ist unser altes Wort. Nun handelt es sich darum, zu zeigen, dass aus dem Traum ein tagheller Gedanke werden kann.
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_15.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)