Die volkswirthschaftliche Einsicht von Männern, die mitten im praktischen Leben stehen, ist oft verblüffend gering. Nur so lässt sich erklären, dass auch Juden das Schlagwort der Antisemiten gläubig nachsagen: wir lebten von den „Wirthsvölkern“, und wenn wir kein „Wirthsvolk“ um uns hätten, müssten wir verhungern. Das ist einer der Punkte, auf denen sich die Schwächung unseres Selbstbewusstseins durch die ungerechten Anklagen zeigt. Wie verhält es sich mit dem „Wirthsvolklichen“ in Wahrheit? Soweit das nicht die alte physiokratische Beschränktheit enthält, beruht es auf dem kindlichen Irrthum, dass im Güterleben immer dieselben Sachen rundlaufen. Nun müssen wir nicht erst, wie Rip van Winkle[1], aus vieljährigem Schlafe erwachen, um zu erkennen, dass die Welt sich durch das unaufhörliche Entstehen neuer Güter verändert. In unserer vermöge der technischen Fortschritte wunderbaren Zeit sieht auch der geistig Aermste mit seinen verklebten Augen rings um sich her neue Güter auftauchen. Der Unternehmungsgeist hat sie geschaffen.
Die Arbeit ohne Unternehmungsgeist ist die stationäre, alte; ihr typisches Beispiel die des Ackerbauers, der noch genau dort steht, wo sein Urvater vor tausend Jahren stand. Alle materielle Wohlfahrt ist durch Unternehmer verwirklicht worden. Man schämt sich beinahe, eine solche Banalität niederzuschreiben. Selbst wenn wir also ausschliesslich Unternehmer wären – wie die thörichte Uebertreibung behauptet – brauchten wir kein „Wirthsvolk“. Wir sind nicht auf einen Rundlauf immer gleicher Güter angewiesen, weil wir neue Güter erzeugen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Die Hauptfigur einer Kurzgeschichte von Washington Irving, die auf der deutschen Sage vom „Mönch von Heisterbach“ beruhen soll.
Theodor Herzl: Der Judenstaat, Berlin und Wien 1896, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DE_Herzl_Judenstaat_09.jpg&oldid=- (Version vom 28.6.2018)