Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6 | |
|
auf der Terrasse des Strandhotels einige Einzelheiten aus meiner Unterhaltung mit der Alten. Sie waren damals allerdings in sehr trüber Stimmung, hatten kurz vorher von Ihrer ersten Verlobung gesprochen und haben daher wohl kaum sehr aufmerksam zugehört.“
Benters nickte eifrig. „Ja, ich besinne mich … Es handelte sich in der Hauptsache um eine lange Dienstbotenklatschgeschichte über ein russisches Ehepaar. Doch die Einzelheiten sind mir längst wieder entfallen …“
„Und diese … Klatschgeschichte, lieber Benters – denken Sie! – hat mich auf die Spur des Täters gebracht. Nach der Erzählung der Müllern mußten die Russen sich trotz der Menge großer Reisekoffer und der auffallend eleganten Toiletten der Gnädigen in steter Geldverlegenheit befinden, da der wöchentlich zu entrichtende Pensionspreis immer sehr unregelmäßig von den Leuten bezahlt und auch bei den Kaufleuten alles auf Borg genommen wurde, was zur Folge hatte, daß die Pensionsinhaberin den Leuten des öfteren mit Kündigung drohte und auch die Lieferanten mit Rechnungen das Haus stürmten, wobei es dann häufig zu recht lebhaften Szenen kam, die dem Dienstpersonal natürlich reichlich Stoff zu allerlei Erörterungen gaben. – Diese an sich ganz unbedeutenden Tatsachen ließen schon damals einen vorläufig allerdings noch recht unbestimmten Verdacht in mir entstehen. Und diesen Verdacht wurde ich nicht mehr los, trotzdem ich bisher ja auch nicht die geringste Spur eines Beweises gegen die beiden Fremden hatte, eben nur wußte, daß sie die Zimmer und die Veranda über Frau Trauts Räumen bewohnten und in fortwährender Geldklemme waren. – Doch mit aller Vorsicht setzte ich meine Nachforschungen fort. So bin ich mehrmals bei Frau Werner gewesen, nachdem ich sie ins Vertrauen gezogen hatte, und habe sie um nähere Mitteilungen über die Russen gebeten, die als Boris Sarakow und Frau, Kaufmann aus Petersburg, in der Kurliste eingetragen waren. Aber auf diese Weise erreichte ich nichts, trotzdem sich von Tag zu Tag das Gefühl in mir verstärkte, daß das Ehepaar mit dem Diebstahl irgend etwas zu tun haben müsse. Dann kam jener Tag, an dem ich mich mit Lisa verlobt hatte. Wir waren damals abends bei meiner Schwägerin – Sie besinnen sich wohl noch …? – Nun, und während Sie und Käti nach Tisch im Eßzimmer zurückblieben, standen Lisa und ich an dem offenen Verandazimmer und sprachen von unserm jungen Glück, von unserer Zukunft. Ich habe da wahrlich nicht im geringsten an den Diebstahl gedacht, war viel zu sehr erfüllt von Seligkeit, um mich mit so nüchternen Dingen zu beschäftigen. … Zufällig blicke ich plötzlich nach oben – nur um festzustellen, ob der Himmel sich nicht etwa noch mehr bewölkt habe, da wir ja noch nach den Kurgarten gehen wollten. Und da verschwand über uns ein blasses Männergesicht, dessen stechende Augen ich schon lange kannte: Der Russe, Herr Boris Sarakow, der uns anscheinend belauscht hatte. In demselben Augenblick durchzuckte mich ein seltsamer Gedanke, eine Ideenverbindung, die mir sofort die näheren Tatumstände des Diebstahls wieder ins Gedächtnis zurückrief. Ich glaubte die Erklärung für das geheimnisvolle Verschwinden des Körbchens mit seinem kostbaren Inhalt gefunden zu haben, glaubte jetzt zu wissen, auf welche Weise der Dieb, ohne daß er die Veranda zu betreten brauchte, sich das Körbchen aneignen konnte. – Na, Assessor, ist Ihnen jetzt ein Licht aufgegangen?“
Doch Benters Gesicht blieb nachdenklich wie zuvor. „Die Lösung des Rätsels scheint für einen Dritten gar nicht so einfach,“ meinte er langsam, und man merkte es ihm an, wie sehr er sich anstrengte, diese Lösung zu finden.
„Nun, nehmen Sie einmal an,“ fuhr Jarotzki lebhaft fort, „daß der brave Herr Sarakow schon öfters die untere Veranda beobachtet hatte, von der er, davon habe ich mich selbst überzeugt – ein ganzes Stück übersehen konnte, sobald er sich nur etwas aus seinem Fenster hinausbeugte – nehmen Sie weiter an, daß es ihm nicht entgangen war, wie meine Schwägerin bisweilen ihre Schmucksachen in das Körbchen legte, das auf dem Tischchen am Fenster stand. Was war die Folge dieser seiner Beobachtungen? – Eben der Plan, die Schmucksachen zu stehlen. Und dieser Plan wurde mit einer solchen Geschicklichkeit ausgeführt, daß die Täter eine Entdeckung kaum zu befürchten hatten. – Die Sarakows bohren also zunächst in einer Nacht vorsichtig zwei schräg nach der Hauswand hin verlaufende Löcher in den aus einer einfachen Dielenlage bestehenden Fußboden ihrer Veranda. So können sie nicht nur die ganze untere Veranda, sondern auch einen Teil des dahinterliegenden Zimmers überblicken. Sie besorgen sich dann einen langen, nicht zu dünnen Draht, biegen das eine Ende zu einem Haken, warten die nächste Gelegenheit ab, als wieder einmal an einem Abend das Henkelkörbchen einen kleinen Fischzug verlohnt, und während die teure Gattin an den Kucklöchern aufpaßt, ob niemand von den Unterwohnern in der Nähe ist, lehnt der Herr Gemahl sich zum Verandafenster hinaus und angelt mit dem Draht schnell das Körbchen von dem Tische weg und zieht es schnell nach oben. Selbstverständlich hat er sich vorher davon überzeugt, daß er auch von der Straße und den gegenüberliegenden Häusern nicht beobachtet wird. – So, mein lieber Benters, ist das Kunststückchen ausgeführt worden – eigentlich wunderbar einfach, wenn man erst hinter den Trick gekommen ist, nicht wahr …?“
Der Assessor starrte den Freund ganz verblüfft an.
„Donnerwetter,“ entfuhr es ihm unwillkürlich, „daran hätte ich allerdings nie gedacht, nie!“ – Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Der Gedanke, daß das Körbchen auf diese Weise weggekommen sein könnte, kam Ihnen also wirklich erst an jenem Abend …?“
Ja, und daran reihten sich ebenso schnell all die anderen Vermutungen, die mich dann veranlaßten, Frau Werner drei Tage nach der Abreise unserer Damen wieder aufzusuchen. Ich hatte Glück, denn die Russen waren gerade verreist, machten angeblich einen Ausflug in die Umgegend. Frau Werner gestattete mir auch bereitwilligst, in die von Sarakows bewohnten Räume hinaufzugehen, gab mir die Schlüssel mit und ließ mich dann allein. Da die Fremden keine eigene Bedienung mithatten, konnte ich ganz unbesorgt und ungestört eine Durchsuchung der Zimmer vornehmen, fand dann auch zuerst in dem Fußboden der Veranda die beiden, allerdings sehr sorgfältig mit braunem Kitt wieder verschmierten Löcher, in der Küche harmlos auf dem Herde liegend den mehrfach zusammengebogenen langen Draht, dem man es noch ansah, daß sein eines Ende einmal zu einem Haken geformt worden war, und dann das am meisten Belastende! – in dem Herde selbst, und zwar in der Feuerung des Bratofens unter einer Menge halbverkohlter Zeitungen deutliche Reste von dünnen Rohrstäbchen. Und an einem dieser Rohrstäbchen hing noch ein Stückchen halbverbranntes, rotes Seidenzeug …“
Jarotzki fuhr in seinem Bericht fort: „Daß hier der Versuch gemacht war, jenes Körbchen, das leicht zum Verräter werden konnte, zu beseitigen, unterlag keinem Zweifel mehr. Um aber ganz sicher zu gehen, nahm ich noch den Draht vom Küchenherde, richtete ihn wieder gerade und überzeugte mich, ob er tatsächlich bis in die untere Veranda hinabreichte, und … fand ihn lang genug. Mit dieser Feststellung war auch die Beweiskette gegen die Russen geschlossen. – Ich verständigte Frau Werner dann von meinen Entdeckungen, empfahl ihr dabei, sich ja nichts anmerken zu lassen und bat sie, mich von der Rückkehr des edlen Pärchens sofort zu benachrichtigen. Offen gestanden – ich rechnete auf diese Nachricht kaum, da ich fürchtete, daß Sarakows mit ihrem Raube das Weite gesucht hätten – wenn auch ihre neuen Patentkoffer – nur um ihr Verschwinden zu bemänteln, wie ich argwöhnisch vermutete! – in der Wohnung zurückgeblieben waren. Doch die beiden schienen sich nach der Abreise meiner Schwägerin wohl noch sicherer zu fühlen als vorher. Denn sie erschienen vorgestern abend seelenvergnügt wieder bei der Abendtafel, erzählten viel von ihrem Ausfluge und bezahlten dann auch das noch rückständige Pensionsgeld, um das Frau Werner sie schon verschiedentlich vergeblich gemahnt hatte. Dieses teilte mir die Pensionsinhaberin gestern morgen in einem kurzen Briefchen mit. Und keine Stunde später – so gegen 10 Uhr spielte sich dann auf der Veranda bei Sarakows eine höchst dramatische Szene ab. Personen: das Ehepaar und ich. – Ohne jede Einleitung stellte ich mich da beiden als Beamter des hiesigen Amtsgerichts vor, der den Auftrag hätte, sie wegen des Diebstahls der Schmucksachen zu verhaften, sagte ihnen auch gleich, daß unten im Hause mehrere Polizeibeamte postiert wären, so daß sich ein Fluchtversuch kaum verlohnen dürfte. Nach diesen Eröffnungen, die ich mit größter Ruhe vorbrachte, waren die Herrschaften zunächst etwas fassungslos, begannen dann aber sehr bald, besonders die ganz pikant ausschauende Gnädige, mit einer derartigen Flut von Unschuldsbeteuerungen und Aufschreien ihrer gekränkten Herzen, daß ich die Operation zur Schonung meiner Gehörwerkzeuge abkürzen mußte. Ich lieferte ihnen denn also, um ihr Gedächtnis aufzufrischen, eine genaue Beschreibung der Art und Weise, wie sie den Diebstahl ausgeführt hatten, wies mild lächelnd auf die Reste des Körbchens, die Löcher im Fußboden und den langen Draht als schwer belastendes Material hin und bat sie im eigensten Interesse sehr höflich, mir die Kostbarkeiten wieder auszuhändigen, wofür ich versprach, von jeder weiteren Verfolgung Abstand zu nehmen. – Nun – zunächst sträubten sie sich noch etwas, die Wahrheit
Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6. Georg E. Nagel in Berlin-Schöneberg, Lienz 1913, Seite Nr.30,S.3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bix_0016.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)