Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6 | |
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langsam sagte sie, während sich die Mundwinkel ihres kirschroten Mäulchens traurig herabzogen:
„Onkel, willst Du nicht mein Papa werden …? – Alle Kinder haben einen Papa, der mit ihnen spielt. Du baust so schöne Sandkuchen …“ Und tief aufseufzend fuhr sie fort: „Mamachen will mir nie wieder einen Papa schenken, Onkel, nie wieder … Aber, wenn Du sie sehr, sehr bittest …“ Zaghaft sah sie wieder zu ihm auf. Und unter dem Blick dieser tiefen, klugen Augen quoll Benters eine nie empfundene, heiße Sehnsucht zum Herzen.
Die Kinderfrau lachte verlegen, verabschiedete sich jetzt hastig und zog Bix mit sich fort. Aber immer wieder wandte die Keine sich um und winkte den Freunden zu, die dem süßen Geschöpfchen ebenso eifrig dieses Grüßen erwiderten.
Die beiden nahmen dann an dem für sie ständig reservierten Tische auf der Terrasse des Strandhotels eine recht schweigsame Mahlzeit ein. Immer aufs neue suchte Jarotzki ein Gespräch in Gang zu bringen. Der Assessor war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er ganz unmögliche Antworten gab, bis der Referendar schließlich auch verstummte. Erst als der Nachtisch gereicht wurde und die Terrasse sich mehr geleert hatte, begann Benters mit leiser, oft vibrierender Stimme dem Freunde von der zu erzählen, die er einst geliebt und die sich, mit seinem Verlobungsringe am Finger, einem anderen versprochen hatte, nur weil der andere eine … glänzendere Partie war als er, der damalige Referendar.
Stumm hörte Jarotzki zu. Und als der Assessor geendet hatte, reichte er ihm herzlich die Hand über den Tisch hin. – „Jetzt verstehe ich Sie erst,“ sagte er warmen Tones. „Allerdings, nach den Erfahrungen muß es schwer sein, noch einmal an treue, aufrichtige Liebe zu glauben. Nun, vielleicht finden Sie doch noch einmal ein Herz, welches Sie diese Enttäuschung überwinden läßt und Ihnen die Hoffnung auf ein ganzes, ungetrübtes Glück zurückgibt.“
Doch Benters schüttelte nur traurig den Kopf.
„Nein, Jarotzki – so etwas vergißt man nie. Ich habe mir ja schon so oft vorgehalten, daß es ungerecht ist, von einem Weibe auf das ganze Geschlecht schließen zu wollen, daß eben überall Unkraut unter blühenden Blumen emporschießt. Aber der Schlag traf mich damals zu hart. Ich liebte sie ja, die dann von mir ging, liebte sie, wie ich nie wieder empfinden kann. Gewiß, jene große Leidenschaft ist längst in mir erstorben. Aber das, was sie mir an Bitternis zurückließ, wuchert weiter, überwuchert meine Jugend mit erdrückenden, verdunkelnden Ranken, die Mißtrauen und Unglaube heißen. Und deshalb, Jarotzki, deshalb bin ich Ihnen dankbar für die Ehrlichkeit, mit der Sie mir vorhin am Stande sagten, daß auch Ihnen mein Interesse für jene einsame Frau nicht entgangen ist. Denn ich gebe es zu – ich fühlte mich seltsam hingezogen zu diesem Weibe mit den schwermütigen, dunklen Augen. Und es war die höchste Zeit, daß Sie mir zeigten, wohin ich mich schon mit meinen Wünschen verirrt hatte, das nie erfüllt werden kann. Ich habe ja die Fähigkeit verloren, nochmals schrankenlos zu vertrauen. Ich würde stets beobachten, prüfen, würde mich mit eifersüchtigen Gedanken quälen – nicht nur mich, auch die, die ich leichtsinnig an mich ketten wollte. Und daher, lieber Freund, muß dieser Frühlingstraum heute ein Ende finden. Ich bin wieder erwacht … Vor mir reckt sich wie ein Gespenst das Bild derjenigen empor, die mir einst jubelnd in die Arme flog, als ich um sie anhielt, für die ich strebte, arbeitete, die Freunde mied, nur um mich ihr ganz allein widmen zu können.“
Jarotzki wagte kaum aufzusehen. Dieser Griff in eine bis dahin sorgfältig verhüllte Vergangenheit hatte auch ihn tief erschüttert. Aber er war zartfühlend genug, dem Freunde jedes Trostwort zu ersparen, das in diesem Falle ja doch nur stören konnte, selbst wenn darin auch noch so viel warmes Mitempfinden gelegen hätte. – Benters rührte nachdenklich in seiner Kaffeetasse, und das leise Klirren des silbernen Löffels, das sich bald verstärkte, bald wieder fast ganz erstarb, begleitete seine Gedanken wie die Melodie zu einem wehmütigen Liebesliede. Dann schob er plötzlich fast heftig die Tasse beiseite und fuhr sich mit der Hand glättend über die Stirn, als ob er all diese Erinnerungen fortwischen wollte.
„Ich bin ein angenehmer Tischgenosse, Jarotzki, nicht wahr?!“ meinte er mit einem Versuch zu scherzen. „Würze Ihnen das Mahl mit Herzensergüssen, die Sie kaum etwas angehen! – Doch nun … Schluß damit! Erzählen Sie mir lieber, was Sie von der Kinderfrau erfahren haben. Das wird mich sehr wohltuend in die Wirklichkeit zurückführen …“
Drei Wochen waren seitdem vergangen. Das Aktenstück „Strafsache gegen Unbekannt wegen Diebstahls“ hatte durch den an jenem Mittwoch abgehaltenen Lokaltermin und die darauf folgenden eingehenden Vernehmungen zwar an Umfang, nicht aber an Inhalt gewonnen. Alle Bemühungen, in die Angelegenheit etwas mehr Licht zu bringen, waren vorläufig erfolglos geblieben. Nur das eine trat nach diesen mit größter Geduld und Vorsicht angestellten Ermittelungen immer klarer zutage: daß der Dieb tatsächlich nur von außen her in die Veranda gelangt sein konnte. – Wie er dies aber an dem wunderbar milden Juniabend in der hellerleuchteten Straße unter den Augen der in ihren Vorgärten promenierenden Einwohner der gegenüberliegenden Häuser fertiggebracht hatte, war ein Rätsel, an dessen Lösung selbst der scharfsinnige Jarotzki scheinbar erfolglos arbeitete.
Aber jener Mittwoch, der den beiden Freunden in ihrer amtlichen Eigenschaft die Bekanntschaft der jungen Witwe und ihrer liebreizenden Schwester vermittelte, sollte sie noch um eine weitere Erkenntnis bereichern. Denn daß der Argwohn des Kommissars, Frau Traut könnte den Diebstahl vielleicht aus irgendwelchen Gründen nur erfunden haben, vollkommen haltlos war, mußten sie damals sehr bald einsehen. Ein solcher Verdacht entbehrte dieser in glänzenden Vermögensverhältnissen lebenden Dame gegenüber, die ihre vornehme Denkungsart in jeder Äußerung verriet, mit der sie die ihr von dem Assessor vorgelegten und sehr ins einzelne gehenden Fragen beantwortete, jeder auch nur einigermaßen einleuchtenden Erklärung. So durfte Jarotzki mit dem Ausfall dieser ersten Begegnung vollkommen zufrieden sein. Zwar wurde der Assessor nach jenem Mittwoch noch einsilbiger und versonnener, flüchtete sich auch in seinen freien Stunden mit einer geradezu auffälligen Scheu in die weiten Wälder, die das bergige Hinterland der Küste von Stranddorf meilenweit bedeckten, ging trotzdem jedoch mit nur schlecht verhehltem Eifer auf jedes Gesprächsthema ein, das nur irgendwie[1] Gelegenheit bot, den Namen Käti Traut zu erwähnen. Und dazu bot ja der Diebstahl im Wernerschen Pensionat immer wieder Gelegenheit. Des Referendars ebenso fein berechnete wie fein ausgeführte Schachzüge brachten denn auch den gewünschten Erfolg. Benters litt offenbar immer mehr unter den fortwährenden Seelenkrämpfen, bei denen seine hartnäckigen Vorurteile und die plötzlich erwachte Leidenschaft für die junge Frau miteinander stritten und die der Referendar fast mitleidslos immer wieder heraufbeschwor. Daß Benters, dessen Herz seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, auf diese Weise das Bild der heimlich Geliebten nicht vergessen konnte, war nur zu natürlich. Und bald hielt Jarotzki es an der Zeit, seine Taktik zu ändern. Er sprach nun ganz offen mit dem Freunde, machte ihm klar, daß er hier vielleicht ein Glück versäume, welches seinem Leben einen neuen Inhalt geben könnte. Täglich schürte er dieses Feuer, und um dem Assessor das Nachgeben zu erleichtern, bekannte er selbst auch ganz offen, wie es um ihn stand und welche Wünsche und Absichten er schon jetzt an das zierliche übermütige Persönchen der Schwester der jungen Witwe knüpfte. Bald hatte er auch die Genugtuung, den Freund die Waffen strecken zu sehen, das heißt – der Assessor war damit einverstanden, ihn wieder einmal an den bisher so ängstlich gemiedenen Badestrand zu begleiten.
Den Strandkorb Nr. 72 fanden sie besetzt. Davor spielte Bix im Sande, handhabte eifrig mit ihren braunen Händchen den kleinen Spaten, und neben ihr saß im Schatten eines halb in den Sand eingegrabenen Sonnenschirmes Elisabeth Döring, vertieft in die Lektüre eines Leihbibliothekbandes. Doch des Schicksals Tücke schien jetzt den beiden Freunden einen Streich spielen zu wollen. Niemand bemerkte sie, als sie vorüberschlenderten, und Benters, dem das Herz bis zum Halse hinauf klopfte, wollte den Referendar schon schnell mit sich fortziehen, da er dieses Wiedersehen fast fürchtete, als das kleine Mädelchen plötzlich aufblickte, die beiden erst eine Weile ganz verblüfft anstarrte, dann aber mit einem Jubelruf aufsprang und halb stolpernd mit ausgebreiteten Armen auf Benters zueilte, wobei die blonden Locken ihr nur so um das freudestrahlende Gesichtchen flogen …
„Onkel,“ rief Bix ganz atemlos und faßte Benters Hand, „wo warst Du so lange? Du wolltest doch mit mir spielen kommen …! Ich hab’ meine Schippe mit, Onkel, komm, hilf mir … bitte … bitte. Mamchen hat mir auch schon eine so große Fahne gekauft, so groß …“ Und wie im Traum ließ der Assessor sich von der weichen Kinderhand führen, stand nun vor der jungen Frau, deren Augen ihm mit seltsam forschendem Ausdruck entgegenschauten, während ihr langsam eine feine Röte in die Wangen stieg.
„Sie dürfen der Kleinen ihre ungestüme Art nicht verargen, Herr Assessor,“ antwortete sie ungekünstelt und schnell gefaßt auf seine etwas verlegenen Begrüßungsworte hin. „Fast täglich hat sie von Ihnen gesprochen und war sehr traurig als
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Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6. Georg E. Nagel in Berlin-Schöneberg, Lienz 1913, Seite Nr.28,S.3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bix_0007.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)