Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6 | |
|
darstellte, in der ersten Zeit dem neuen Dezernenten mit großer Vorsicht begegnet, weil er ebenso wie die meisten[1] andern Benters[2] gemessene Liebenswürdigkeit für beabsichtigte Unnahbarkeit hielten. Dann aber mußte er schon nach einigen Wochen einsehen, wie sehr er dem Assessor in Gedanken unrecht getan hatte. – Da die beiden Richter in Stranddorf verheiratet waren und auch die übrigen Referendare sämtlich in der nahen Provinzialhauptstadt Altstadt wohnten, so blieben Benters und Jarotzki aufeinander angewiesen, nahmen zunächst nur ihre Mahlzeiten gemeinsam ein, machten dann aber bald zusammen weite Ausflüge in die reizvolle, bergige Umgegend, auf denen sie sich in gegenseitigem Meinungsaustausch, wie es so häufig im Leben geschieht, gerade infolge der Verschiedenheit ihrer Anschauungen schnell nähertraten. Der Referendar merkte auch bald, daß des Assessors müde Gleichgültigkeit und Verschlossenheit eine tiefere Ursache haben mußte. Wenigstens glaubte er dies aus gelegentlichen bitteren Bemerkungen schließen zu dürfen, die Benters oft halb unbewußt über die Lippen kamen und die zumeist das Thema Weib und Liebe mit Ausdrücken abtaten, deren leidenschaftliche Schärfe dem trotz seiner durchaus nicht zahmen Studentenjahre noch überaus idealdenkenden Jarotzki zu ebenso geharnischten Einwendungen Veranlassung gaben. Aber wenn sich schließlich auch zwischen den beiden jungen Juristen eine fast herzliche Freundschaft herausbildete, so ging Benters doch über alle Fragen, durch die der Referendar ihn zu einer wohltuenden Aussprache zu bewegen suchte, fast ängstlich hinweg. Jedenfalls mußte er irgendeine herbe Enttäuschung hinter sich haben, die aus dem sicher einst recht flotten Lebemann einen versonnenen[3], ungerechten Frauenfeind gemacht hatte.
Allerdings konnte diese Abneigung gegen das weibliche Geschlecht bei dem Assessor doch noch nicht ganz so fest eingewurzelt sein, wie Jarotzki mit einer durch eigene Erfahrungen auf diesem Gebiet geschärften Beobachtungsgabe in den letzten Tagen festzustellen Gelegenheit fand. Benters plötzliches Interesse für den besonders in den Vormittagsstunden dicht bevölkerten Strand hing ja unzweifelhaft mit jener stets in Schwarz gekleideten Dame zusammen, die dort gewöhnlich in einem der Strandkörbe, vertieft in die Lektüre eines Buches, anzutreffen war, während in ihrer Nähe ein blondlockiges, reizendes Kind eifrig mit einem kaum dem Backfischalter entwachsenen jungen Mädchen im Sande spielte, ober in hochgeschürzten Röckchen und mit nackten Beinchen im Wasser umhertappte und mit einem langstieligen Netz Stichlinge fing, die es dann jubelnd der ernsten Frau in einem kleinen Blecheimerchen vorzeigte. Und stets glitt in solchen Augenblicken über deren schwermütiges Gesicht ein sonniges Lächeln, das ihr Antlitz wunderbar verschönte und in ihre Augen den Ausdruck stillen Glücks zauberte. Bisweilen entlockten ihr auch[4] die drolligen Bemerkungen der Kleinen ein silberhelles Lachen, und Jarotzki hatte wohl nicht zuviel vermutet, wenn er es dann auch in des Assessors Gesicht wie den Widerschein dieses seltenen Frohsinns aufleuchten zu sehen glaubte.
Denn regelmäßig waren die beiden Freunde in der vergangenen Woche nach Erledigung des Vormittagsdienstes an den Strand geschlendert und hatten sich – ein seltener Zufall! – ebenso regelmäßig in der Nähe jenes Strandkorbes in den Sand gestreckt, ohne daß einer von ihnen jemals dazu eine besondere Anregung zu geben schien. Und der Referendar konnte sich von Tag zu Tag innerlich mehr darüber freuen, wie Benters stets neue Ausflüchte erfand, nur um sich nicht anmerken zu lassen, was ihn, der bis dahin dem Trubel des Badelebens nach Möglichkeit gemieden hatte, jetzt plötzlich immer wieder an die leise rauschende See unter die lärmenden Kinder und verführerischen Frauengestalten zog. Der Assessor war es auch, der den Referendar zuerst auf die beiden Damen aufmerksam machte – allerdings auf eine Weise, die möglichst harmlos erscheinen sollte, indem er zunächst von dem blondlockigen Mädchen zu sprechen begann, das sich eines Tages wenige Schritte vor ihnen in kindlichem Eifer mit dem Bau einer Burg beschäftigte.
„Haben Sie schon jemals ein liebreizenderes, frischeres Kindergesicht gesehen wie dieses?“ hatte Benters damals gefragt und ganz begeistert auf die Kleine hingewiesen, deren Wangen, Hals und Nacken und drallen Beinchen von Seeluft und Sonne leicht gebräunt waren. Und Jarotzki konnte aus ehrlichem Herzen nur zustimmen. War ihm die Kleine doch selbst schon des öfteren aufgefallen.
„Die Dame in dem Strandkorb scheint die Mutter zu sein,“ bemerkte der Assessor dann nach einer Weile so nebenbei. Und wieder nach einer Pause:
„Seltsamer Kosename für ein Kind, finden Sie nicht auch, Jarotzki? – Sie hörten doch, nicht wahr? Die Dame rief ja eben die Kleine an. – „Bix“ nennt sie sie! Ob das die Abkürzung für irgendeinen weiblichen Vornamen ist?“
Und die beiden hatten dann ganz ernsthaft versucht, das merkwürdige „Bix“ irgendwie abzuleiten, einigten sich schließlich nach vielem Kopfzerbrechen auf Beatrix als Stammwort.
So hatte dieser Strandroman im leuchtenden Sonnenschein begonnen, als die Wellen träge gegen das Ufer brandeten und der Wind vom Nordparke her die einschmeichelnden Klänge eines neuesten Walzers herübertrug. „Bix“ hieß das erste Kapitel … Und das letzte sollte auch „Bix“ heißen – trotzdem Jarotzki das damals noch nicht wissen konnte, wenn er auch bald Grund genug hatte, alles mögliche zu vermuten. –
Während der blonde Referendar jetzt durch den grünen Blätterrahmen der Linden scheinbar gedankenlos in die Ferne starrte und dabei spielend seinen Schnurrbart durch die Finger zog, reihte er seine bisherigen Beobachtungen ganz logisch aneinander und gelangte so zu der festen Überzeugung, daß Benters zweifellos auf dem besten Wege war, sich sterblich zu verlieben. Denn anders ließ sich dessen jetzt beinahe schon aufdringliches Interesse, mit dem er jede Bewegung der stets in Schwarz gekleideten Dame verfolgte, gar nicht deuten. Außerdem zeigte auch seine Gemütsstimmung in den letzten Tagen eine merkliche Umwandlung. Er war womöglich noch träumerischer und einsilbiger geworden, hatte dabei aber sonderbarerweise seine wütenden Ausfälle auf die holde Weiblichkeit fast ganz eingestellt. – All diese auffälligen Erscheinungen hätten jeden anderen wohl noch früher stutzig gemacht. Aber des Referendars Gedanken waren in derselben Zeit ebenso stark mit zwei leuchtenden, übermütigen Augen beschäftigt, die zufällig zu dem frischen Gesichtchen des jungen Mädchens gehörten, das man ständig in Begleitung der schwarz gekleideten Dame antreffen konnte. Und aus diesem Grunde stieß ihm die plötzliche Veränderung des Freundes erst auf, als diese schon ein höchst bedenkliches Stadium erreicht hatte. –
So wurde denn zwischen ihnen ein lustiges, aber höchst überflüssiges Versteckspiel getrieben, da jeder im stillen hoffte, seine Teilnahme für den Strandkorb Nr. 72 dem anderen äußerst geschickt verborgen zu haben, sich dabei jedoch arg verrechnet hatte. Denn auch dem Assessor war es nicht entgangen, daß Jarotzkis Blicke immer wieder zu den Damen zurückkehrten, trotzdem es ihm zu seinem stillen Mißbehagen nicht gelingen wollte, festzustellen, welcher von ihnen diese Aufmerksamkeit galt.
Und beide schauten jetzt gedankenverloren vor sich hin, beide überlegten wunderbarerweise aber dasselbe – nämlich wie man am unauffälligsten die Bekanntschaft der Damen machen könnte – eine Aufgabe, die trotz der vielgerühmten Badefreiheit gar nicht so leicht zu lösen schien.
Benters hatte gerade nach längerem Kampf zwischen Pflicht und Neigung dem Referendar den Vorschlag machen wollen, heute einmal – natürlich nur des herrlichen Wetters wegen! – früher als gewöhnlich aufzubrechen, räusperte sich bereits leise, um nachher möglichst gelassen und harmlos mit seinem Plänchen herausrücken zu können, als die Tür sich öffnete und der Gerichtsdiener mit einer roten Mappe erschien, die er vor den Assessor hinlegte, worauf er beladen mit den erledigten Aktenbänden ebenso stumm wieder verschwand. Ziemlich mißmutig über diese unwillkommene Störung blätterte Benters die engbeschriebenen Bogen durch, und auch Jarotzki beugte sich enttäuscht über den Tisch und suchte einen Blick in das Aktenstück zu werfen – weniger aus Interesse für den Inhalt, als um festzustellen, ob die Geschichte wirklich so dringlich war, wie es der rote Umschlag schon äußerlich kennzeichnete. Und er atmete erleichtert auf, als der Assessor jetzt die Feder ergriff und mit wenigen Worten eine Verfügung auf die erste Seite schrieb und dabei, ohne ein besonderes Interesse zu verraten, erklärend sagte:
„Die Staatsanwaltschaft in Altstadt ist schon wieder so liebenswürdig, uns mit der Führung der Voruntersuchung in einer Diebstahlsache zu betrauen. – Als wenn wir nicht schon so genug zu tun hätten!“ setzte er ärgerlich hinzu, streute etwas Sand über die frischen Zeilen und legte dann den Umschlag beiseite.
Jarotzkis Teilnahmlosigkeit gegenüber dem neuen Eingang schien bei dem Worte Diebstahl doch etwas nachzulassen. – Strafrechtspflege, insbesondere die Kriminalwissenschaften, waren schon auf der Universität sein Steckenpferd gewesen, und mit ganz besonderem Eifer hatte er die Ausbildungsstationen beim Untersuchungsrichter und der Staatsanwaltschaft durchgemacht und dabei bewiesen, daß er tatsächlich über ein ungewöhnliches Kombinationstalent und scharfes Auffassungsvermögen verfügte. Daher ließ ihn Benters auch auf seine Bitte die Zeugenvernehmung
Walther Kabel: Bix. In: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft 27 S.1–4, Heft 28 S.2–5, Heft 29 S.2–5, Heft 30 S.1–5, Heft 31 S.6. Georg E. Nagel in Berlin-Schöneberg, Lienz 1913, Seite Nr.27,S.2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Bix_0002.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)