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Seite:Anzeiger fuer die Kunde deutscher Vorzeit 1881 3 003.jpg

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dessen Schluß ganz verloren ist?[1] Hat vielleicht auch Roritzer, wie das Fialenbüchlein und das Schriftchen über Maßbretter, noch mehrere Einzelschriftchen verfaßt? Jedenfalls schöpften beide aus derselben Quelle. Schon die Thatsache, daß sich beide auf dieselben Junker von Prag als ihre Gewährsmänner berufen, liefert den Beweis dafür.

Schmuttermayer allerdings nennt unter den Vorgehern noch Ruger und Nicolaus von Straßburg. Wer ist unter ersterem gemeint? Doch wohl ein praktischer Baumeister. Er mag ebenso eine mythische Person sein, wie die Junker von Prag es noch immer sind trotz der umfangreichen Literatur, die versucht hat, bestimmte Menschen mit nachweisbaren Leistungen aus ihnen zu machen. Ist er etwa der Meister, der 1421–50 den Chor der Reinoldikirche zu Dortmund[2] erbaut hat? Es wollte uns nicht gelingen, die Persönlichkeit desselben sicher zu stellen. Nicolaus von Straßburg mag wol jener Nicolaus Dotzinger gewesen sein, der 1459 noch als Geselle die deutsche Hüttenordnung auf dem Tage zu Regensburg unterzeichnete. Die gemeinsame nächste Quelle beider mag Konrad Roritzer gewesen sein, der den Chor der Lorenzkirche in Nürnberg erbaute und in der Mitte des Jahrhunderts Dombaumeister in Regensburg war und 1458 seinen Vetter Hans Bauer von Ochsenfurt, nach dessen Tode 1462 seinen Sohn Matthäus, den Verfasser des Fialenbüchleins, zum Palier der Lorenzkirche bestellte, der sodann in Nürnberg Meister wurde und den Bau bis 24. Sept. 1463 führte, wo ihm der Rath der Stadt absagte. Möglich, daß unter den Gesellen, welche an dem 1472 gerichteten, 1477 vollendeten Chore arbeiteten, Schmuttermayer sich befand. Wie dem auch sei, beide geben uns die Art an, wie durch geometrische Darstellung alle gegenseitigen Verhältnisse der Fialen und Wimperge festgestellt werden können; sie geben uns also Theile des Systemes, die Bauformen geometrisch, nach „steinmetzischer Art“, zu entwickeln. Das ganze System lernen wir merkwürdiger Weise von einem Italiener kennen, von Cesare Cesariano, der 1521 eine italienische Uebersetzung des Vitruv mit Anmerkungen herausgab.[3] Das Original steht uns z. Z. zwar nicht zur Verfügung, aber Walther Ryff (Gualtherius Rivius) reproducierte dasselbe in seiner deutschen Uebersetzung dieses Buches[4]). Ueber die Berechtigung, welche die Theorie der Kunst der Anschauung zugestehen kann, daß ähnlich, wie in der Musik die Harmonie der Töne auf ganz bestimmten Zahlenverhältnissen beruht, so auch die künstlerische Harmonie der Bauformen nur durch mathematisch genaue Feststellung des gegenseitigen Größenverhältnisses sich erzielen lasse, daß im Großen wie im Kleinen genaue, gegenseitig bedingte Größe aller Maße stattfinden, daß also die angewandte Geometrie die thatsächliche Beherrscherin des ganzen Formengebietes sein müsse, kann natürlich hier nicht gehandelt werden. Die oft als richtig erkannte und eben so oft bestrittene Frage ist zur Zeit der Roritzer unbedingt bejaht worden, und was Matthäus in seiner Schrift niedergelegt hat, wie das, was Schmuttermayer geschrieben, galt damals als Gesetz, so daß es lebhaft zu bedauern ist, daß nicht beide schon das gesammte Formengebiet so aufgezeichnet haben, wie einzelne Theile.

Ueber die Zeichnung, welche Schmuttermayer’s Text begleitet, ist wenig zu sagen. Wir haben sie als Facsimile von einer auf photographischem Wege hergestellten Kupferplatte abgedruckt. Es ist auf dem ersten halben Blatte, welches die Vorderseite des Heftchens zieren soll, die einfache Umrißzeichnung des Wimpergs und der beiden Fialen wiedergegeben, auf dem den Schluß bildenden halben Blatte dagegen die sorgfältige Ausführung, und man sieht auch aus unserem Blatte, daß im Original sich von den nach der Fertigstellung wieder wegpolierten Hilfslinien (Blindstrichen), noch Spuren erkennen lassen. Ebenso sieht man aber auch, daß vielleicht Meister Schmuttermayer, wie es heute auch noch zu gehen pflegt, nicht ganz rechtwinkelig gezeichnet und so seinen sonst trefflich gezeichneten Wimperg etwas verschoben hat. Ob er etwa die Zeichnung nicht selbst auf die Kupferplatte gebracht hat, und ob ihm, dem Meister von Winkel und Richtscheit etwa ein „Künstler“ den Winkel verschoben hat?

Zu den technischen Ausdrücken, die wir auch von Roritzer kennen lernen, erhalten wir durch Schmuttermayer einige nicht uninteressante Beiträge, so daß es gestattet sein mag, hier etwas näher auf die einzelnen einzugehen, da doch technische Ausdrücke, die meist bildlich übertragen sind, nicht blos vom philologischen, sondern vor allem auch vom sachlichen Standpunkte aus betrachtet werden müssen.

Wir haben das Wort Fiale selbst in der Ueberschrift unseres Aufsatzes zur Anwendung gebracht, da es nun einmal durch das Studium des längst bekannten Roritzer allgemein üblich geworden ist, obwohl Schmuttermayer, wie Walter Ryff, stets von Fiolen, Violen spricht. Den Ursprung dieses technischen Ausdruckes haben wir sicher da zu suchen, wo auch die Sache selbst ihre Entstehung hatte, in der französischen Architektur des 13. Jahrh., von wo aus mit dem übrigen gothischen Apparat auch Fialen und Wimperge nach Deutschland übertragen wurden, wo sie allerdings noch einige Ausbildung erfuhren, bevor sie zu Schmuttermayer’s Fialen wurden.

Nun haben wir aber für manche technischen Ausdrücke jener französischen Bauschule eine zuverlässige Quelle in dem


  1. Obwohl der Augenschein kaum annehmen läßt, daß am Schlusse etwas fehlt, könnte ja der Theil über die Pfeiler, welcher im Vorworte erwähnt ist, auf einem neuen Blatte begonnen worden sein.
  2. W. Lübke, die mittelalterliche Kunst in Westfalen. (Leipzig, 1853), S. 137. Sollte vielleicht gar kein Baumeister, sondern ein Mathematiker gemeint sein, wie etwa Roger Bakon, da ja die Geometrie als Grundlage der Baukunst angesehen wurde.
  3. Vitruvio, de architectura libri dieci, traducti de latino in vulgare commentati da Cesare Cesariano. Como, Gotardo da Ponte, 1521. Brunet t. IV, p. 672.
  4. Nürnberg, Petrejus, 1548.