Erinnerungen aus dem heiligen Kriege/In französischen Quartieren
Erinnerungen aus dem heiligen Kriege.
„Um Frankreich und dessen Bewohner zu kennen, darf man nicht in Paris gewesen sein,“ sagte mir eines Tages mein Wirth in Tours. „Man verwechselt uns Franzosen immer mit den Parisern; es giebt keinen größeren Gemeinplatz und keine hartnäckigere Lüge als die Phrase: Paris ist Frankreich. Nichts weniger als das. Paris ist ein Ding, ein Land, ein Reich für sich und ebenso machen die Pariser eine eigene Nation aus, es ist die Stadt des Völkermischmaschs, die Residenz, die sich das moderne Babel, nämlich der Gedanke des Weltbürgerthums erbaut hat, an diesem werden die Nationalitäten und an Paris wird Frankreich zu Grunde gehen. Wer unser Land, wer unser Volk kennen lernen will, der muß zuerst in die Provinz, dann erst nach Paris gehen.“ Nun denn, die Vorbedingungen wären erfüllt, um nach dieser Weisung einen Einblick in französische Verhältnisse, in Sitten und Gewohnheiten des täglichen und häuslichen Lebens, in den Charakter, die Denk- und Gefühlsweise des Volkes zu gewinnen. Ich habe die Seine nur bei Troyes und bei Fontainebleau, nie bei Paris gesehen, wir haben die Provinz vom äußersten Osten bis zum Westen, [270] und von da wieder ein gutes Stück nach Süden hinab durchzogen, wir haben Lothringen kennen gelernt, den südlichen Theil der Champagne, wir sind bis an die Grenzen von Burgund gestreift, wir sind in den Kornboden Frankreichs, in die Beauce und das Gatinais eingebrochen, wir haben uns in das Stromgebiet der Loire und des Loiret vorgeschoben, wir haben Bekanntschaft mit dem Lande der französischen Obotriten, mit der Vendée gemacht, es hat uns dann weiter südwärts gezogen in die lachenden Gegenden der Touraine, an die reizenden Loireufer mit ihren alten Renaissanceschlöstern, ihren modernen, graciösen Villas und ihren im Februar veilchenblühenden und -duftenden Auen. Ueberall habe ich mit den Leuten des Landes am Kamine gesessen, habe ihren Pot au feu gehütet, daß die Fleischbrühe nicht überlief; nicht nur einen Scheffel Salz habe ich mit ihnen gegessen, nein, auch so und so viele Cotelettes und Hühner und Kalbsbraten, habe ihren Wein ausgetrunken, in ihren Betten geschlafen, habe sie Napoleon den Dritten und Gambetta verwünschen hören, dabei mir von ihren Familienverhältnissen erzählen lassen und ihnen Vorlesungen über Deutschland gehalten und über das Paradies, welches die Deutschen bewohnen. Also werden mir meine lieben Leser vielleicht zutrauen, daß ich ihnen manches Interessante über Land und Leute in Frankreich erzählen kann. Ich will heute mit der nachfolgenden kleinen Skizze beginnen.
Am 8. August, wo man allgemein glaubte, die Franzosen würden nach den Schlachten von Spichern und bei Weißenburg und Wörth die Saarlinie halten und sich zur entscheidenden Schlacht stellen, überschritten wir die französische Grenze. Die ersten französischen Quartiere sollten wir in Saargemünd beziehen. Dorthin war ich mit der Colonne des Hauptquartiers dem Stabe vorausgegangen. Durch diesen Vorsprung hatte man den Vortheil, sich eines Quartiers nach eigener Wahl zu versichern. Auf der Mairie, oder wie die Baiern sagen Marie, hatten sich im großen Sitzungssaale der Väter der Stadt unsere Quartiermacher installirt und die lebensgroßen Oelbilder Napoleon’s des Dritten und Donna Eugenia’s schauten finster genug auf die preußischen Uniformen herab, welche sich’s in den hohen Lehnstühlen ganz bequem gemacht hatten, ein Quartierbillet nach dem andern in Empfang zu nehmen, und auf die ganz verzweifelte Frage des bereits vor Angst schwitzenden Beamten „Encore?“ mit einem trockenen „Encore“ antworteten. Man ließ mir die Wahl zwischen zwei Billets, bei einem Schlächter und bei zwei Putzmacherinnen. Beim Schlächter, sagte ich mir, die Billets in der Hand abwiegend, bekommst du jedenfalls gute Verpflegung, bei den Putzmacherinnen jedoch ist vielleicht besseres Quartier. Ich gab das Quartierbillet für den Schlächter zurück. Ich fand ein kleines, elegantes Haus, in der ersten Etage kündigte sich das Modemagazin durch eine ausgebaute Glasauslage an. Ich war auf ein paar graciöse Französinnen gefaßt, welche die hohe Schule der Hauben und Hüte und Fichus in Paris absolvirt hatten; das erste lebende Wesen, welches mir aus der Wohnung entgegentrat, war ein kleiner Affenpinscher, der auf die fremde Einquartierung dressirt zu sein schien, denn er bellte mich mit französischer Lebhaftigkeit an; nun trat eine junge Dame aus der Thür, um ihm Ruhe zu gebieten, verschwand jedoch bei meinem Anblick blitzschnell, die Thür hinter sich zuwerfend.
Recht herzlicher Empfang! dachte ich mir, aber vielleicht kommt's noch. Richtig, die Thür that sich auf, drei weiblichen Wesen befand ich mich gegenüber, zwei jüngeren zwischen vierundzwanzig bis dreißig Jahren und einer älteren Frau. Alle drei schienen aus Trauer um das bedrohte Vaterland das Gelübde gethan zu haben, sich vierzehn Tage lang nicht zu waschen, nicht zu kämmen, kattunene Nachtjacken zu tragen und alle unnöthigen Unterröcke auf dem Altare des Vaterlandes niederzulegen; die beiden Jüngeren waren sehr häßlich, die Alte dagegen sogar sehr hübsch, nur weil sie keinen Anspruch darauf machte, es zu sein. Nein, das können meine Quartiergeberinnen nicht sein; jedenfalls hatte ich mich in der Etage geirrt.
„Wo wolle Sie denn hin, Herr?“ frug mich die Alte in deutschem Moseldialect, als ich eine Treppe höher gehen wollte.
„Ich habe ein Billet für die Mesdemoiselles so und so, marchandes de Modes.“
„Da sind Sie als recht bei uns, die Mesdemoiselles sind hier mei Töchter, und ich bin die Mutter."
„So – hm – Sie sind die Mutter – hm.“
Gewöhnlich, dachte ich bei mir, pflegen Putzmacherinnen keine Mütter zu haben, aber in diesem Falle, bei diesen Töchtern da schadet’s auch nicht. Es wäre doch besser gewesen, ich hätte das Quartierbillet beim Schlächter behalten. Ich wurde in einen Salon geführt, in welchem Mademoiselle Zoë, die ältere der Töchter und die Seele des Geschäftes, „die das Genie hat“, wie mir die Mutter vertraute, ihren Kundinnen Audienz zu ertheilen pflegte; da waren auf den Tischen Cartons ausgebreitet, da standen ringsum schwarzpolirte Gestelle, auf denen sich einst coquette Hüte graciös gewiegt hatten, nun waren sie leer, nur einige verstaubte Mousselinhauben trauerten mit geknickten Flügeln der früheren Herrlichkeit nach, und die Mutter öffnete verzweiflungsvoll die Cartons, zeigte auf verstaubte Federn, auf verblaßte Blumen, verblichene Blätter, und klagte den Kaiser des Ruins ihres Geschäfts an. Sie hätten gar nichts mehr, und dabei seien die Preise des Fleisches, des Brodes, überhaupt aller Lebensmittel in einer Weise gestiegen, daß sie nicht mehr wüßten, woher sie die Mittel nehmen sollten. Alle Bekannte, von denen sie hätten borgen können, seien aus der Stadt beim Nahen der Preußen geflohen auch ihre Töchter hätten, wie alle Jungfrauen, diese Absicht gehabt, aber das hätten sie nicht nöthig gehabt und dem habe sie sich energisch widersetzt.
„Die Preiße sind doch keine Unmensche, das sind polirte, honette Leut’. Ei, mer kenne sie doch von Saarbrück her, ,ihr thut hier bleibe, ihr faudirt euch nicht` hab' ich zu meine Demoiselles gesagt.“
„Sehr wahr. Ihre Demoiselles werden von den Unsrigen nichts riskiren.“
„Ach, Herr, wenn nur endlich Friede werde thät'! Ob wir Preiße, ob wir Baschkire werde, das ist uns toute la même chose, wenn als nur das Geschäft in eme gute Train geht.“
Die Frau und die Töchter seufzten schon nach Frieden, ehe nur der Krieg angegangen war.
Diese Jeremiade war mein Willkomm in dem Hause. Die Aufregung der Damen legte sich indessen und machte einer höchst freundlichen Stimmung Platz, als ich den Dreien erklärte, daß ich nur ein Zimmer zum Wohnen, ein Bett zum Schlafen, einen Tisch zum Schreiben beanspruchte, allenfalls Morgens Kaffee, den ich ihnen jedoch bezahlen würde, sonst kein Frühstück, kein Diner. Wie glücklich waren sie darüber! Das heiße Dankgefühl ihres Herzens ließen sie an meinen Stiefeln aus. Ich wollte nicht zugeben, daß dieselben Hände, die sonst stur mit Gaze und zarten Blumen hantirten, die Arbeit des Schuhputzens übernähmen. Aber sie machten es wie weiland Nürnbergs Jungfrauen mit Kaiser Maximilian dem Ersten: um ihn an der Abreise zu verhindern, um ihn zu zwingen, während der Fastnacht noch einem Tanze auf dem Rathause in Nürnberg beizuwohnen, nähmen sie ihm heimlich die Stiefel weg. So geschah es auch mir; wenn ich noch schlief, schlich sich die Alte in das Zimmer, holte die Stiefel, und wenn ich erwachte, konnte ich mein verschlafenes Gesicht in ihrem Glanze sich spiegeln lassen. Das rührte mich tief und bezwang zuletzt meinen Unmuth, den ich über mich selbst hatte, daß ich nicht lieber bei den Fleischtöpfen des Schlächters mich niedergelassen hatte, als bei verhungerten Putzmacherinnen.
In Puttlange, was ein alter deutscher Ort ist, genannt Püttlingen, wohnte ich nach Verhältniß des kleinen Ortes recht gut und wurde ebenso gut verpflegt und bedient, jedoch bei wem und von wem? das möchte ich heute noch wissen; das habe ich nicht erfahren können. Das Haus, in das ich eintrat, war bewohnt; überhaupt hatten hier zwischen Saar und Mosel die Leute, zum größten Theile wenigstens, ihre Wohnungen noch nicht verlassen; die Ereignisse rückten ihnen zu schnell auf den Hals. Sie hatten allenfalls nur noch Zeit, ihr Geld und ihr Silberzeug bei Seite zu bringen; aber die Insassen selbst mußten bleiben, und sie erwarteten zitternd die in ihrem Wahne so furchtbaren Feinde. Man sah in den Orten nur ganz alte Leute; alle Bevölkerung unter vierzig Jahren hatte sich „sauvirt“; auch die Frauen, selbst wenn sie das kanonische Alter, das heißt die Vierzig bereits erreicht hatten, hielten ihre Ehre und Tugend dennoch gefährdet; namentlich schienen sämmtliche Kinder ausgestorben zu sein. Kein Wunder auch, unsere Soldaten waren in den Ruf gekommen, daß sie Kinder besonders schmackhaft fänden – die Tollheit war um diese Zeit in einem französischen Gehirne der normale Zustand, und jetzt ist es noch nicht viel besser geworden.
Wie bereits bemerkt, deuteten alle Anzeichen darauf hin, daß [271] das Haus, in welchem ich Quartier beziehen sollte, bewohnt war. Aus der Küche drang ein einladender Bratengeruch; ich hörte Thüren öffnen und schließen, aber Niemand zeigte sich, um mir mein Zimmer anzuweisen, wenn ich es nicht selbst gefunden hätte durch den Namen, den der Quartiermacher angeschrieben hatte. Siehe da, Alles war für meine Ankunft vorbereitet; der Tisch war vollständig gedeckt, ein einfaches Mittagsessen war reservirt, die Suppe dampfte noch aus der Terrine; man mußte also den Moment, wo ich in Sicht war, erfaßt haben, um sie auf den Tisch zu stellen und dann flugs den Rückzug zu nehmen. Ich setzte mich hin und aß, ganz allein wie der Papst; ich klingelte dann, daß man den Tisch abräume. Kein lebendes Wesen ließ sich sehen; doch ja – eine Katze kam gravitätisch hereinspaziert, eine der herrlichen Angorakatzen, wie man sie häufig in Frankreich hat, sah mich groß an, suchte sich einige Augenblicke niederzusetzen und entfernte sich ebenso feierlich, wie sie gekommen war. Außer diesem vierbeinigen Besuche vermochte ich kein lebendes Wesen zu entdecken.
Des Nachmittags war ich ausgegangen, des Abends kam ich nach Hause, wieder war der Tisch zum Abendessen servirt, das Bett abgedeckt, auf dem Kopfkissen lag, wie in allen französischen Betten, die übliche weiße, baumwollene Zipfelmütze, aber in dem Hause herrschte Todtenstille, es schien von dienstbaren Geistern, von Heinzelmännchen, von irgend einem unconcessionirten Dienstmanninstitut bewirtschaftet zu werden. Unfreundlich schienen sie eben nicht zu sein; meinen Mantel, der vom Regen während des Tages durchnäßt war, fand ich getrocknet vor, überall begegnete ich Spuren einer sorgenden, thätigen Hand, aber von dieser selbst war nicht eine Fingerspitze zu erspähen. Die Sache fing fast an, unheimlich zu werden, aber trotzdem hatte ich mich eines ganz gesegneten Schlafes zu erfreuen, aus dem ich am Morgen durch ein leises Klopfen an die Thüre geweckt wurde. „Wer da? Herein!“ rief ich, mir die Augen reibend, aber dem Rufe wurde nicht Folge geleistet, es kam Niemand. Mit einem Satze war ich aus dem Bette, riß die Thür auf, die ich, nebenbei gesagt, niemals verschließe, auch während des Feldzuges in keinem Quartier verschlossen gehalten habe; der Flur vor meinem Zimmer war leer, ich glaubte das leise Anziehen einer Nebenthür zu vernehmen, aber in der Toilette, in der ich war, konnte ich keine weiteren Nachforschungen anstellen. Als ich in mein Zimmer zurückkehrte, drang mir ein gar einladender lieblicher Duft entgegen; auf dem Tische war das Frühstück Café en lait mit Butter und Brod servirt. Nun verstand ich auch das Klopfen, man hatte mich durch dieses Zeichen aufmerksam machen wollen, daß der Kaffee kalt würde, aber wie derselbe in´s Zimmer gebracht worden war, ob durch das Schlüsselloch, ob das geheimnißvolle Haus ein „Tischlein decke dich“ besaß, das weiß ich heute noch nicht – meine lieben Leser werden es durch meinen festen Schlaf begreiflich finden, am Ende muß ich es auch annehmen, aber eine Stunde darauf trat ich den Weitermarsch an und ich ging aus dem Hause, in welchem ich neunzehn Stunden gewohnt, gegessen, geschlafen, gefrühstückt hatte, ohne ein anderes Geschöpf zu Gesicht bekommen zu haben, als den Hauskater, und der konnte mir über meinen Quartiergeber eben so wenig Auskunft geben, als ich es meinen lieben Lesern gegenüber vermag.
Eine Genugthuung hatten wir, glaube ich, in französischen Quartieren mehr oder minder Alle, nämlich, daß bei den Franzosen die Herzlichkeit beim Abschiede von uns größer war, als bei unserem Empfange. Nicht etwa darum, daß sie froh gewesen wären, unser los geworden zu sein, denn nach uns kamen wieder Andere, sondern weil sie sich gestehen mußten, daß wir um so viel besser waren, als der Ruf, in welchen uns ihre Journalisten und Priester gebracht hatten, weil sie sich innerlich eines Unrechtes gegen uns schuldig fühlten. Hier gewann das Reinmenschliche die Oberhand über alle nationalen Leidenschaften. Einen solchen eclatanten Fall erlebte ich auf unserem Vormarsche gegen die Mosel in Delme. Als ich in das Haus eintrat, in welchem ich mein Quartier finden sollte, begegnete ich im Flur einer Frau, die beim Anblick eines Prussien in ihrem Hause mit einem Schrei des Schreckens entfloh und die Thür hinter sich in das Schloß warf. Welches Bild bot sich dagegen des andern Morgens dar, als es an das Abschiednehmen ging!
Ich hatte mich in dem Hause installirt, die Frau ließ sich in der ersten Stunde nicht mehr blicken, dagegen aber war der Mann erschienen, seines Zeichens ein Ackerbürger, eine freundliche, biedere Natur, die mir die Hand bot und mich in ein Zimmer zu ebener Erde führte, an dessen Alkoven ein Schlafzimmer stieß. Der Mann brachte Wein, stieß mit mir an und erzählte mir, daß achtundvierzig Stunden vorher Theile der französischen Armee den Ort passirt, sowie daß sich die Campagnards gewundert hätten, die Armee, die sie auf dem Wege nach Deutschland glaubten, Kehrt machen zu sehen, man habe sie aber beruhigt und ihnen gesagt: die Franzosen hätten bereits den Preußen eine furchtbare Niederlage bereitet und seien auf dem Wege, sie an einer andern Stelle noch vollends zu vernichten; das hätten sie denn auch gerne geglaubt, nur erst, als sechsunddreißig Stunden darauf die preußischen Spitzen im Orte erschienen seien, da sei ihnen die Sache mit der Niederlage der Preußen nicht mehr ganz geheuer gewesen, die Cavallerie, die zuerst erschienen sei, habe gar nicht das Ansehen von Truppen gehabt, die kurz vorher aufs Haupt geschlagen worden seien, im Gegentheil hätten sie so frisch und wohlgemuth in die Welt gesehen und auf ihren Rossen eine Sicherheit zur Schau getragen, die einen auffallenden Gegensatz gegen die französische Reiterei gebildet habe. Letztere schien es sehr eilig gehabt zu haben, so erzählte mir mein Wirth. Natürlich versäumte ich es nicht, ihn über die wahre Sachlage aufzuklären, daß wir die Sieger und die Franzosen auf dem Rückzuge seien, die Sache schien ihm auch einzuleuchten, trüb schaute er in das Glas, rückte die Mütze von einer Seite des Kopfes auf die andere und sagte mehrere Male. „O armes Frankreich! o Paris! diese verruchte Stadt ist die Ursache all’ unseres Uebels.“
Während einer Gesprächspause klopfte es an die Thüre. Ein Mann, in der Mitte der Dreißiger und in der Uniform der preußischen Oberstabsärzte; das Gesicht von einem Vollbart umsäumt, trat in das Zimmer. Er überreichte dem Besitzer des Hauses ein Quartierbillett lautend auf einen Officier und einen Burschen.
„Das kann nur ein Irrthum sein,“ bemerkte ich, „dieses Haus ist bereits vom Obercommando der II. Armee belegt und außer einem kleinen Wohnraume, in dem sich die Wirthsleute aufhalten sind diese beiden Gemächer die einzige bewohnbare Localität.
„Mir ganz einerlei!“ versetzte der Militärarzt, „ich gehöre zum X. Corps, bin Chefarzt eines Lazareths und habe von unserm Fourier dieses Quartierbillet der Mairie eingehändigt erhalten. Ich bleibe.“
„Es fragt sich nur, wo Sie bleiben,“ war meine Erwiderung, und in dieser lief ein gereizter Ton unter. Ich habe schon früher an einer andern Stelle betont, wie sehr der Krieg dazu angethan sei, jede egoistische Regung im Menschenherzen zu steigern. Namentlich findet das auf Quartiere seine Anwendung. „Ich bin zuerst hierher gekommen, ich werde meine Rechte hier geltend machen,“ erklärte ich.
„Und ich weiche nicht von der Stelle!“ war die Antwort des Arztes. Ich habe nicht Lust, in dem Hundeneste noch eine Stunde nach Quartier umherzulaufen. Wer sind Sie überhaupt, mein Herr? Sie sind Civilist, ich trage Uniform, ich habe hier das Vorrecht. Ich lege Beschlag auf das Bett.“
„Mein ist das Bett und mir gehört es zu!“ rief ich in plötzlicher parodirender Eingebung und stellte mich vor den Eingang des Alkovens.
Es fielen gegenseitig noch einige sehr heftige Redensarten, es war nicht abzusehen, wie der Streit geendet haben würde, wenn nicht plötzlich eine Pause eingetreten wäre und Einer den Andern schärfer in’s Auge gefaßt hätte. Plötzlich ertönten in gleichem Momente von vier Lippen die gegenseitigen Namen, begleitet von einem hellschallenden Gelächter.
„Du bist’s, Du? Aber Mensch, wie kommst Du denn hierher?“ So begegneten sich die Fragen fast in den nämlichen Ausdrücken, begleitet von kräftigem freudigem Händeschütteln. In der Hitze des Gefechts, durch die äußere Veränderung, die mit meinem Gegenüber, wie mit mir von der Zeit vorgenommen worden war, hatten wir uns nicht erkannt, und nun fiel plötzlich der Schleier von unseren Augen. Der jetzige Chefarzt war früher in Berlin Mitglied eines lustigen Kneipkreises, genannt die „Reifenschwinger“, zu dem unter Anderen Hans Wachenhusen, Gustav Rasch, Julius Rodenberg, Georg Hesekiel, Karl Frenzel und auch meine Wenigkeit gehörten. Seit zehn Jahren hatten wir uns aus dem Gesicht verloren, fast gar nichts mehr von einander gehört, [273] und nun mußten wir uns auf fremdem, französischen Boden in einem uns Beiden zugewiesenen Logis ganz zufällig wiederfinden. Sehr spaßhaft war die verblüffte Miene, die unser Wirth zu dieser Begegnung machte. Erst dieses gegenseitige kurze pikirte Auftreten und dann plötzlich diese fröhliche Herzlichkeit – man sah es ihm an, daß er sich keinen Vers darauf zu machen wußte. Schließlich machten wir ihm denn die Sache klar, und nun bezeigte die ehrliche Haut eine Freude, als ob er der Dritte im Bunde wäre. Ganz unbemerkt verschwand er und kehrte mit einigen Flaschen sehr alten, vortrefflichen Burgunders zurück. Nun setzten wir uns fest und erzählten uns unsere Erlebnisse während dieser zehn Jahre. Mein Freund war ein tüchtiger Arzt geworden, hatte sich verheirathet, war mehrfacher Vater und vor einem Jahre Wittwer geworden, sonst aber fanden wir, daß wir die Alten geblieben waren. Namentlich hatte mein Freund eine Eigenschaft beibehalten, um die er früher vielfach geneckt worden war: er hatte die Gewohnheit, nur im Superlativ zu sprechen. Nach seiner Anschauung war Alles ausgezeichnet, wunderbar, großartig, pyramidal, grandios oder kolossal. Solche Naturen sind stets liebenswürdig, und so erwies es sich auch jetzt wieder.
So vergingen ein paar Stunden; unser Wirth hatte seine Freude an uns, verstand natürlich von unserm Gespräche nicht Ein Wort, lachte aber bald den Einen, bald den Andern seelenvergnügt an und nöthigte durch Anstoßen so lange zum Trinken, bis wir – ich muß es zu meiner Beschämung gestehen – alle Drei des süßen Weines mehr als genug hatten.
Unser Franzose war aus Rand und Band; er erzählte uns, daß man uns eigentlich für eine große Räuberbande halte und mit den Cartouches und Mendrins auf eine Reihe stelle. Der ganze Ort habe sein baares Geld in Sicherheit gebracht, und wenn man in der Kirche der heiligen Jungfrau den Jupon aufhebe, so werde man darunter sämmtliches baare Vermögen finden. Auch er habe darum seine Frau in den Schornstein gehängt – nein, nicht seine Frau, sondern nur seine silbernen Löffel, verbesserte er, im Gegentheil, Madame Jouvenot sei eine ausgezeichnete Frau, die man höchstens nur in Glas und Rahmen aufhänge.
Von Zeit zu Zeit bewegte sich der Vorhang hinter dem Glasfenster, und man sah das Gesicht der Frau, die vorhin bei meinem Erscheinen so plötzlich Reißaus genommen hatte, aufmerksam in das Zimmer lugen. Wahrscheinlich wollte sie sehen, ob wir ihrem Manne noch nicht den Kopf abgeschnitten hätten; da solches bis dato noch nicht geschehen, so schien sie Zutrauen zu gewinnen und erschien, wenn auch immer noch scheu und zögernd, in der offenen Alkoventhür, bis Monsieur Jouvenot sie an der Hand nahm und feierlichst präsentirte. Madame hatte nun die Ehre, in den Zecherkreis gezogen zu werden; sie hatte einen dunklen Schnurrbart auf den Lippen, der manchem Fähndrich Ehre gemacht hätte, und schlug auch eine tüchtige Klinge; am Abend stand eine Batterie von acht leeren Flaschen auf dem Tische. Vom Weggehen meines superlativen Freundes war nun keine Rede mehr. Als ein Beweis besonderer Auszeichnung räumte ihm das Ehepaar sein schneeweißüberzogenes eheliches Bett ein. Und als wir am andern Morgen – die Sonntagsglocken läuteten rings in die Berge – von dem Ehepaar Abschied nehmen mußten, gab es nichts Betrübteres als Herrn und Madame Jouvenot, die uns die Versicherung gaben, daß sie Wüthriche erwartet und nun Menschen kennen gelernt hätten, die plaudern und lachen, die trinken und fröhlich sein können wie sie selbst.
Was ich den Lesern der Gartenlaube hier mitzutheilen beabsichtige, ist durchgängig sehr unschuldiger Natur, und ich kann durchaus nicht, wenn ich bei der Wahrheit bleiben will, große Heldenthaten, haarsträubende Mordgeschichten u. dgl. erzählen. Die letzterlebte Zeit ist aber ohne Frage so gewaltig und großartig gewesen und hat mit so mächtiger Hand in die Fugen der Geschichte eingegriffen, daß wohl jede, selbst die geringste Kleinigkeit interessant und des Lesens werth ist. Zu Allem aber darf ich mir vielleicht auch mit der Hoffnung schmeicheln, daß meine Mittheilungen und Erfahrungen als Ergänzungen früherer Schilderungen dienen können, welche die Gartenlaube bereits aus anderer Feder gebracht hat.
Wirklich activ mitwirkend ist der Truppentheil, bei dem ich stand, im Ganzen nicht gerade oft gewesen, mein Regiment hat aber dafür Gelegenheit gehabt, fast den ganzen Osten Frankreichs gründlich kennen zu lernen, da es auf immerwährenden Streifzügen in die Kreuz und in die Quere begriffen war; es wird sich kaum ein Städtchen oder eine Stadt finden, wo wir nicht kurze oder lange Zeit in Quartier gelegen und in deren Umgebung wir nicht bald Weg und Steg kannten; natürlich habe ich, bei diesem ewigen Hin- und Herziehen, eine Menge von Quartieren kennen gelernt, bin mit den verschiedensten Charakteren in Berührung gekommen, und kann daher ein wenigstens einigermaßen richtiges Urtheil über die Grundzüge in dem Charakter des französischen Volkes in den Provinzen abgeben. Die Schilderungen des französischen Volkes, die man am häufigsten liest, sind fast alle mehr oder weniger übertrieben; man hat sich zum Schaden der Provinzen daran gewöhnt, zu sagen: „Paris ist Frankreich.“ Dies ist durchaus nicht der Fall. Ein Jeder, der eine Zeit lang in Paris und dann in den Provinzen, dem eigentlichen Frankreich, unter dem Kern des französischen Volkes gelebt hat, wird wissen, wie grundverschieden Paris und Frankreich ist.
Das Volk in Frankreich hat durchgängig mit sehr wenigen Ausnahmen einen gutmüthigen, gemüthlichen, vor preußischen Pickelhauben allerdings sehr besorgten Charakter; Religiosität oder kirchlicher Sinn ist bei den Männern sehr schwach oder gar nicht zu finden, und dennoch besitzen die Mönche und Jesuiten einen ungeheuern Einfluß, nämlich durch die Frauen; die Männer wissen dies sehr gut, aber trotz ihres Nihilismus, trotz ihres Kirchenhasses können sie sich diesem Einflusse nicht entziehen. Diesen Priestern – es sind ihrer in jedem Dorfe wenigstens drei oder vier zu finden – hatte die deutsche Armee es auch zu verdanken, wenn sie in ganz Frankreich von Jedermann mit einer wirklich kindischen Furcht erwartet wurde; um so anerkennungswerther war es daher, wenn diese Furcht, je länger unsere Truppen in Frankreich waren, immer mehr und mehr schwand, um in manchen Gegenden einem gewissen Freundschaftsgefühl Platz zu machen.
Ich weiß mich keines Quartiers zu entsinnen, in dem unser Abmarsch nicht ein aufrichtiges Bedauern verursacht hätte, und dieses wurde, je länger wir in einem und demselben Quartier weilten, desto stärker, obwohl die gegentheilige, freudige Empfindung doch nur sehr natürlich gewesen wäre. Man sah uns sehr ungern kommen, aber man sah uns ebenso ungern scheiden. Ich entsinne mich noch lebhaft eines Quartiergebers, bei dem dies Beides ganz besonders der Fall war. Es war ziemlich am Ende des Feldzuges, als ich Befehl erhielt, mit meiner Compagnie das Dorf Vébilleau zu besetzen. Nach einem angestrengten Tagesmarsch erreichten wir unsern Bestimmungsort und hatten nichts Eiligeres zu thun, als unser Quartier aufzusuchen, um unsere müden Glieder endlich einmal wieder durch eine ordentliche Siesta erquicken zu können. Ich mit noch einigen Cameraden hatte mein Quartier bei dem Maire des Dorfes genommen, der als alter Capitain der französischen Armee den Sturm auf den Malakoff mitgemacht und dabei einen Arm verloren hatte; ein echter Repräsentant der grande nation. Der alte Herr residirte in einem schloßartigen Gebäude ganz allein, nur von einem alten Diener gepflegt. Es war eine stattliche imponirende Gestalt, mit mächtigem weißen Schnurr- und Knebelbarte und das Kreuz der Ehrenlegion im Knopfloch, die uns preußische Landwehrleute an dem Eingange des Hauses würdevoll und mit folgender Ansprache begrüßte:
„Meine Herren, Sie sind, wenn auch aus den traurigsten Gründen, für jetzt meine Gäste; erlauben Sie mir zu versichern, daß es mein Bemühen sein wird, es Ihnen hier an keiner Bequemlichkeit fehlen zu lassen; aber verlangen Sie nicht, daß ich, ein alter Soldat der französischen Armee, freundschaftliche Gefühle für Sie empfinden, daß ich die gerechten Gesinnungen, die ich gegen Sie hege, verbergen soll; ich werde durch Ihren Anblick stets an das Unglück meines armen Frankreichs erinnert werden.“
Und in der That, während unseres Aufenthaltes in Vébilleau hatten wir Alles, was wir nur irgend verlangen konnten; alle unsere Wünsche wurden auf’s Bereitwilligste erfüllt, kurzum wir lebten buchstäblich „wie der liebe Gott in Frankreich“; und, was das Schönste war, wir hatten die Genugthuung, unserm alten Capitain und Preußenfeind, da unser Aufenthalt von ziemlich langer Dauer war, eine so gute Meinung von uns beizubringen, daß er am Abschied sagte:
„Meine Herren, seitdem ich Gelegenheit gehabt habe, Sie als die Vertreter des deutschen Heeres kennen zu lernen, scheint mir die Schande Frankreichs, von der deutschen Armee besiegt zu sein, nicht mehr so groß, nicht mehr so sehr Schande!“
Von Vébilleau und dem Hause des alten Capitains führte mich mein Schicksal nach Vitry zu einer Wittwe in Quartier, die in genanntem Städtchen eine reizende kleine Villa mit ihren beiden hübschen Töchtern und einem weniger hübschen, aber sehr treuen Diener bewohnte. Am ersten Tage ließ sich die alte Dame gar nicht sehen, die etwaigen Wünsche und Anforderungen, die ich zu stellen hatte, wurden von dem Diener entgegengenommen und sehr prompt ausgeführt. Wie ich später erfuhr, hatte man mich in dem Zimmer der älteren der beiden jungen Damen untergebracht, es war sehr elegant möblirt und darin ein prachtvoller Flügel aufgestellt. Einer alten lieben Gewohnheit folgend, versuchte ich am dritten Tage meines Aufenthaltes in dieser reizenden Behausung seit langer Zeit zum ersten Male wieder mein musikalisches Talent in einer bekannten deutschen Volksweise. Ich mochte schon eine geraume Weile gespielt haben, und war so sehr in die Erinnerungen an längst verschwundene Zeiten und an die Lieben in der Heimath versunken, daß ich gar nicht bemerkte, wie die Thür sich öffnete und Jemand eintrat, um hinter meinem Stuhle stehen zu bleiben.
Plötzlich wurde ich durch ein leises Schluchzen aus meinen Träumereien erweckt; erstaunt aufblickend gewahrte ich ein über mich gebeugtes seltenschönes Gesicht, dessen sanfte Züge durch einen rührenden Ausdruck von Schmerz und Melancholie verklärt wurden. Im reinsten dialektfreien Deutsch bat mich die schöne Fremde, die junge Dame, der das von mir bewohnte Zimmer gehörte, das eben gespielte Lied ihr noch einmal vorzutragen; bereitwillig ging ich darauf ein, und nach einer kurzen Einleitung ging ich auf die eigentliche Melodie über. Meine schöne Gefährtin – Mademoiselle Angeline de Savigny – fiel mit einer vollen und schöngeschulten Altstimme ein, und nun zauderte auch ich nicht weiter, mein ganzes Können zusammennehmen, um mit ihr vereint das Lied zu Ende zu singen. Sehr bald hatte sich zu unserm Gesang auch ein Publicum gefunden, nämlich Mutter und Schwester von Mademoiselle Angeline und der alte Diener; alle Drei schienen von unserm Gesang seltsam bewegt zu sein. Die alte Dame suchte vergebens ihren Thränen Einhalt zu thun, und ebenso lauschte auch der alte Bertrand mit unverkennbarem Interesse. Nachdem das Lied beendet war, reichte mir meine Partnerin ohne jede Ziererei die Hand, Madame de Savigny trat auf mich zu, um mich in ihr Wohnzimmer einzuladen, da sie mir eine Erklärung ihrer mich gewiß überraschenden Bewegung schuldig zu sein glaube; „nachdem Sie,“ sagte die alte Dame, „dieses Lied, das für uns so viel schmerzliche und schöne Erinnerungen erweckt, gesungen, kann ich Sie unmöglich mehr als einen Feind meines Vaterlandes betrachten.“
Mit der größten Offenheit erzählten mir Madame de Savigny und ihre Tochter hierauf, welche Bewandtniß es mit dem Liede hatte. Es war eine traurige Geschichte von Liebeslust und Liebesleid; und während ich da saß und die sah, deren Herz schon so viel Leid erfahren, konnte ich mich eines Gefühls des tiefsten Mitgefühls nicht erwehren. – Vor einem Jahre war Angeline [339] de Savigny in Nizza gewesen in Begleitung ihrer Mutter und Schwester. Sie hatte dort einen jungen deutschen Musiker kennen gelernt, schön und talentvoll, doch den Todeskeim mit sich tragend. Auch Angeline war talentvoll und der Musik mit Leidenschaft ergeben; kein Wunder, daß sich die Seelen der beiden von der Natur so verschwenderisch begabten Wesen bald gefunden hatten. Die Musik war es, die aus dem Gefühl der Freundschaft eine reine und glühende Liebe entwickelte, einen Bund der Herzen bewirkte, den der Tod leider nur zu bald trennen sollte.
Als die Familie de Savigny von Nizza nach ihrer Villa in Vitry zurückkehrte, ging der Bräutigam Angelinens mit, und es folgte sehr eine schöne Zeit für die beiden Liebenden, die nur ihrem Glücke, ihrer Liebe und der Musik lebten, ohne an etwas Anderes zu denken. Der Verlobte Angelinens fühlte sich so wohl und gesund wie nie zuvor und lebte an der Seite seiner schönen Braut einen ununterbrochenen Tag des Glückes, stolze und ehrgeize Pläne für die Zukunft machend. Allein das Auge der Mutter sah scharf; sie ahnte, daß diese scheinbare Gesundheit des jungen Musikers nur das letzte Aufflackern des Lebens war, das im Begriff stand für diese Welt zu verlöschen. Den Muth, diese Befürchtungen ihrer Tochter mitzutheilen und sie dadurch so jäh aus ihrem schönen Glückestaumel zu erwecken, hatte sie freilich nicht; oft aber, wenn die beiden Liebenden vereint an dem Clavier saßen – demselben, das jetzt in meinem Zimmer stand – um die schwermüthigen deutschen Melodien, und besonders dies eine Lied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden,“ miteinander zu singen, konnte sich Madame de Savigny der Thränen und des Gedankens, wie sehr gerade dies Lied auf die Beiden passe, nicht erwehren. „Es ist bestimmt in Gottes Rath,“ das sang der jetzt Verklärte noch eine Stunde vor seinem Tode, mit einen Ausdruck, der für Alle, die es hörten, unvergeßlich war; er sang sich sein Schwanenlied! Vor einem Jahre war er gestorben, und noch konnte sich die Familie nicht von ihrem Schmerz erholen, jeder leise Anstoß ließ ihn auf’s Neue mit aller Macht hervorbrechen.
Die Familie in dem Landhause in Vitry war mir bald sehr lieb geworden, diese Zuneigung war gegenseitig, und noch jetzt denke ich oft an jene Tage zurück, und sollte mich mein Geschick wieder einmal nach Frankreich führen, aber hoffentlich dann nicht als Feind, so bin ich gewiß, freundlich und liebevoll von der Familie de Savigny aufgenommen zu werden. Ich ging später jeden Tag auf den Kirchhof von Vitry, um das Grab des deutschen Landsmannes, der in Frankreich so viel Liebe erfahren hatte, zu besuchen; es war ein einfacher, mit üppigem Moos bewachsener Hügel mit der lebensgroßen Marmorstatue des Entschlafenen, von Cypressen umgeben.
Als ich von Vitry fortging, war ich ungefähr vier Wochen lang immer auf dem Marsche; diese Zeit war zwar höchst anstrengend, aber auch wiederum sehr interessant. Ein jeder Tag brachte uns neue Gegenden, neue Menschen. Ueberall sahen wir am Wege die Einwohner stehen mit der unvermeidlichen Zipfelmütze und den schwarzen Holzpantoffeln; Einzelne betrachteten uns mit unverkennbarer Neugierde, Andere dagegen sahen wir auch mit einem beinahe Furcht erregenden Ausdruck Geberden machen, die unmöglich falsch zu verstehen waren; aber bei diesen Geberden blieb es auch; nur eine gewisse Bewegung unsererseits mit dem Gewehr, und die ganze prahlerische Masse, die in der dortigen Gegend die grande nation vertrat, war zerstoben.
Daß in jedem Theil Frankreichs viel mehr Wohlhabenheit, als irgendwo in Deutschland herrscht, ist bereits eine bekannte Sache; der unaufmerksamste Beobachter würde diese Bemerkung, ganz abgesehen von allem Andern, schon bei den Dörfern machen, denen wir hier durchgängig den Namen Städte beilegen würden. Besonders aufgefallen sind mir auch die selten schönen und großen Kirchen, und zwar ist kein Dorf ohne solche. Schöner als bei uns in Städten von vielleicht hunderttausend und mehr Einwohnern, sind auch in dem armseligsten französischen Dorfe die Glocken. Es war stets ein erhebender Augenblick, wenn wir auf dem Marsche waren, und wenn dann plötzlich mit dem Untergange der Sonne oder zur Vesperzeit alle die vielen Glocken aus den verschiedenen, im Ganzen sehr nahe zusammenliegenden Ortschaften in einem harmonischen Ganzen zusammenklangen. Diese verschiedenen Töne, kräftig und milde, worein dann wieder das tiefe Summen einer besonders großen Glocke hallte, vereinten sich stets zu der schönsten Musik. Ferner ist an jeder Kirche eine Thurmuhr, deren richtige Zeitangabe nichts zu wünschen übrig läßt; auch haben diese als sehr angenehme Beigabe ein hübsches Glockenspiel; meistentheils sind die Melodien aus den bekanntesten Opern genommen, und es kommt wohl vor, daß man mitten im Schlafe in tiefer Nacht „Wir winden dir den Jungfernkranz“ oder dergleichen in nächster Nähe herunterdudeln hört und dadurch an den heimischen Leiernkasten erinnert wird.
Eine Zeit lang horcht man und lauscht man; dann aber – man lernt im Kriege den Segen des Schlummers gewaltig schätzen – dreht man sich wieder auf die andere Seite, schläft ein, und es ist kein Wunder, wenn liebe Träume aus der Heimat einkehren und für kurze Zeit die holdeste Täuschung hervorrufen. – Lassen Sie mich heute hier abbrechen. Noch mancherlei Erlebtes, Gesehenes und Gedachtes ruht in meinem Notizbuch wohlverwahrt, und wenn die vorstehenden Aufzeichnungen den Beifall Ihrer Leser gefunden haben, so will ich gern noch Weiteres aus „meinem Feldzugsleben“ folgen lassen.
Die Augusttage waren voll Himmelblau und Sonnenglänzen, die Märsche des Tages über eine Lust und die Bivouacs unter den flimmernden Sternen ein Genuß. So erinnere ich mich des vierzehnten August als eines der herrlichsten Marschtage, wie wir nachher keinen mehr hatten. Wenn man auch in der Loslösung von der Gewöhnung des alltäglichen Lebens nicht mehr recht wußte, ob man am Anfange der Woche oder am Ende derselben stand, so sagte man sich doch: heute muß Sonntag sein. Die Feiertagsstimmung lag in der Natur. Ein weites Plateau, von Bergzügen in den mannigfaltigsten Contouren, in den interessantesten Perspectiven rings umschlossen und inmitten desselben die anmuthigsten üppigsten Abwechselungen von Hügel und Gesenke, Obstgärten und Weinbergen, von saftigen Wiesengründen und dunklen Waldsäumen, von Landhäusern, Villen und Dörfern, die aus ihrer Umhegung wie glühende Blumen aus einem grünen Kranze hervorsehen. Die Straßen, die einst fromme Kirchgänger dahinzogen, waren von dreifachen unabsehbaren Colonnen bedeckt, die Waffen und die Kanonen blitzten in der Morgensonne, und zwischen den Pulverwagen und Proviantkarren kam es plötzlich wie ein Sturmwind hindurch, es waren die ersten und dritten Garde-Ulanen, die sich nachher so brillant geschlagen haben. Dort in der Ferne blitzte ein Silberstreif. Das war die Mosel, und dorthin waren alle Bewegungen gerichtet. Am Vierzehnten und Fünfzehnten fand an verschiedenen Stellen der Uebergang der zweiten Armee über die Mosel statt; wir sollten ihn bei Pont à Mousson machen.
Man war damals bereits in dem Stadium, daß man eine Stadt beim Einfahren in dieselbe nicht mehr nach ihrer architektonischen und landschaftlichen Schönheit beurtheilte, nach ihrem historischen Interesse, sondern nur nach dem Maßstabe, ob sie gute Quartiere böte. Jede, auch die kleinste französische Stadt hat ein elegantes Aussehen. Das kommt durch die uniforme Bauart, das machen die hohen Fenster, der helle weiß-gelbliche Anstrich und namentlich die Persiennes, das heißt die Fensterläden, die man in Deutschland Jalousien nennt. In Frankreich versteht diese Bezeichnung Niemand, und wenn man dort einem Dienstmädchen sagt: „Veuillez fermer les jalousies“, so sieht das Einen verwundert an und combinirt endlich, daß man von seinen Herzensangelegenheiten spreche. Einmal wurde ein solch dienstbarer Geist sogar unangenehm und erklärte mir, sie sei nichts weniger als eifersüchtig, denn sie habe nicht einmal einen bestimmten Geliebten.
In Bezug auf Unterkunft machte die nicht sehr große Moselstadt einen sehr hoffnungerweckenden Eindruck. Ich bekam ein Billet zu einem Monsieur Houillot, einem wohlhabenden Gärtnereibesitzer. In demselben trat mir ein Mann von etwa fünfzig Jahren entgegen, neben ihm eine Frau von etwa fünfundvierzig Jahren, Persönlichkeiten, die für mich gleich beim Eintritt etwas Sympathisches hatten. Dem Manne sah man trotz des französischen, für einen Deutschen schwer auszusprechenden Namens die deutsch-lothringische Abkunft an; er war hager und schwächlich, hatte blondes, in’s Graue spielendes Haar und blaue Augen; die Frau war brünett und von einer Decenz, Würde und graciösen Vornehmheit in Geberden und Sprache, daß sie dem besten Salon Ehre gemacht hätte. Beide reichten mir die Hände, hießen mich willkommen und bemerkten, daß die Feindschaft sich nur bis an die Schwelle ihres Hauses erstrecke, im Innern sei ich ihr Gast wie zu jeder andern Zeit. Sie fragten mich, wann ich zu frühstücken und zu diniren wünsche; der Mann holte Wein aus dem Keller und die Frau einen Orangen-Liqueur aus dem Schranke, den sie mir mit Stolz als ihr eigenes Fabrikat bezeichnete und den ich als wohlerzogener Mensch natürlich vorzüglich gefunden hätte, auch wenn er mir weniger gemundet hätte.
Am Tage vorher hatte in den Straßen der Stadt zwischen den Cavalleriedetachements unserer Avantgarde, oldenburgischen Dragonern und Chasseurs d’Afrique ein heftiger Kampf stattgefunden; vor uns waren nur noch wenige Truppen. Es ist sonst nicht Brauch, daß man ein Hauptquartier fast in die Avantgarde verlegt; aber Prinz Friedrich Karl wollte in Pont à Mousson das Nachrücken der Truppen über die Mosel abwarten; die Stadt war ein günstiger Punkt, um die Marschoperationen übersehen zu können, und zur Vorsicht waren die Zugänge zur Stadt von unseren Truppen stark besetzt worden.
Wir waren so ziemlich die erste Einquartierung in der Moselstadt, und die Einwohner hatten hier das erste Mal Gelegenheit, sich die gefürchteten Feinde aus der Nähe zu besehen. Jedenfalls muß der Eindruck, den meine Erscheinung im Hause Houillot’s machte, ein sehr friedfertiger gewesen sein, denn allmählich kam von guten Freunden und getreuen Nachbarn einer [413] nach dem andern, um sich den bei Houillots frisch eingetroffenen Feind zu besehen, bis schließlich eine ganze Tafelrunde versammelt war. Ich trug damals einen Jagdanzug mit grünem Kragenaufschlag und die preußische Infanteriemütze. Vor Allem beschäftigte es sie zu erfahren, zu welchem Regiment ich gehöre, denn unter allen Uniformen, die in dem Hauptquartier des Prinzen sehr mannigfaltig waren, hatten sie die meinige noch nicht bemerkt; auch trüge ich gar keine Waffen, keinen Degen, keinen Säbel, nicht einmal einen Miniaturrevolver am Uhrschlüssel – und ein Preuße ohne Waffen sei wie ein Weinstock ohne Trauben, ein Körper ohne Seele.
„Glauben Sie denn, ich sei ohne Waffe in das Feld gezogen? Die Waffe, zu der ich geschworen, ist sehr alt und verbreitet, Sie Alle können sie gebrauchen; so hoffe ich wenigstens. Bei uns kennt und führt sie jedes Kind von sechs Jahren an.“
Allgemeines Kopfzerbrechen, was damit wohl gemeint sein könne, während ich unbemerkt von einem seitwärts stehenden Schreibzeuge eine Feder nahm. Einer erlaubte sich die Bemerkung, das hätten sie in ihren Journalen gelesen, daß jedes preußische Kind mit einer Regimentsnummer auf die Welt käme, die Muttermilch mit Pulver gemischt einsauge und als erste Morallehre die Kriegsartikel empfange. Darüber tröstete ich sie, gab ihnen jedoch dafür die Versicherung, daß der Umstand, daß jedes deutsche Kind die Feder führen lerne, nicht wenig zu seiner tüchtigen Waffenführung beitrage. Ich für meine Person führe dermalen die Feder allein als meine Hauptwaffe.
Am Abend beim Diner bemerkte ich, daß Herr und Madame Houillot sehr traurig waren. Ich suchte die Ursache in dem Unglück ihres Vaterlandes und war daher doppelt bemüht, durch Eingehen auf ihre Haus- und Familienverhältnisse die Wolken ihrer Seele zu zerstreuen. Bei meiner Rundschau durch das Zimmer hatte ich auf einer Commode Schulbücher bemerkt und in einem Winkel der Stube ein Kinderstühlchen; ich frug also, ob sie Kinder hätten.
„O zwei!“ antworteten Beide zu gleicher Zeit und Beiden stürzten mit einem Male die Thränen aus den Augen.
„Sind sie todt?“
„O daß uns Gott und alle Heiligen davor behüten mögen! Das wäre das Entsetzlichste für uns.“
„So sind sie krank?“
„Wir wagen es nicht zu fürchten.“
„Was ist denn sonst mit ihnen?“
Nun erzählte denn die Frau, daß sie zwei „Demoiselles“ hätten, die eine zu achtzehn Jahren und die andere zu zwei Jahren, daß sie die Kinder aus Furcht vor den anrückenden Feinden auf ein zwei Stunden entferntes Dorf zu Verwandten gegeben, da man von den Preußen so Entsetzliches berichtet habe, so daß sie die Kinder in größter Lebensgefahr glaubten. Nun aber sei ihnen zu Ohren gekommen, daß sich nach dem Dorfe, wohin die Kinder gerettet wurden, alle Truppenbewegungen zögen, daß dort bereits ein Zusammenstoß stattgefunden habe und die Gefahr dort noch bei Weitem größer sich erwiese, als hier in Pont à Mousson, wo sie bei ihren Eltern in größter Sicherheit sich befänden; denn die Gerüchte über die Grausamkeiten der Feinde hätten sich bei näherer Bekanntschaft mit denselben als übertrieben, als völlig grundlos herausgestellt.
„O mein Herr,“ schloß Madame Houillot, „Sie wissen nicht, was wir leiden; wir seufzen und weinen Tag und Nacht um unsere Kinder, wir finden nicht eher Ruhe, als bis wir sie wieder in unsere Arme schließen können. Wenn Sie unsern kleinen blondgelockten Engel schon kennten, dann würden Sie unsern Schmerz begreifen. Wie wird das arme Kind nach seinen Eltern rufen und weinen! Es schlief stets in meinen Armen – ach, wer wird es jetzt in die seinigen nehmen?“
Der Jammer der beiden Leute ging mir zu Herzen. Unendlich rührend war es zu sehen, wenn die Mutter bei den Mahlzeiten das Kinderstühlchen an den Tisch rückte, als wenn die kleine Posthuma auch wirklich anwesend wäre. Freilich vor ihrem Herzen war das Kind immer gegenwärtig, ihre Liebe und Sorge beschäftigte sich nur allein mit ihm.
„Warum holen Sie denn nicht ihre Kinder in die Stadt herein?“ war meine nächste Frage an den Vater.
„Weil seit vorgestern alle Zugänge zu der Stadt besetzt sind. Vor jedem Thore ist eine Compagnie; jedes Haus am Thore ist ein Wachtlocal; hinein darf Jeder, heraus Keiner.“
Das hatte Grund. Ich bemühte mich auf der Commandantur, für den Mann einen Passirschein zu erhalten. Meiner Bitte wurde jedoch das strengste Verbot, einen solchen überhaupt zu ertheilen, entgegengehalten. Ich wollte mich selbst überzeugen, ob denn die Bewachung wirklich so formidable sei, daß nicht ein kleiner Wagen zwischen den Mannschaften hindurch könne. Gewiß – die Ausgänge waren von Bajonneten gespickt, und der Hauptmann der Wache, dem ich den Sachverhalt mittheilte, zuckte bedauernd die Achsel.
„Würden Sie mich hinauslassen, wenn ich mir diesen Mann,“ damit deutete ich auf Monsieur Houillot, der mich begleitet hatte, „wenn ich ihn als Kutscher mitnähme?“
„Sie? Warum nicht? Dem stände wohl Nichts im Wege,“ war die Antwort des Officiers.
„Gut, Monsieur Houillot, bestellen Sie sich einen Wagen, in einer Stunde fahren wir.“
Wer war froher, als er! Auf dem Rückwege nach der Stadt hatte ich Mühe, ihm nachzukommen, an seinen Füßen waren Flügel. Auf diesem Wege passirte es noch dem armen Manne, daß ihm von einem seiner Landsleute, der ihn in so anscheinend gutem Einvernehmen mit einem „Prussien“ dahineilen sah, in höhnischem Tone nachgerufen wurde: „Bon Compatriote!“ Ich hörte es sehr wohl, aber mein Begleiter nicht; der war nur mit dem Gedanken an einen Wagen beschäftigt, nur einmal nahm er das Wort und sagte:
„Ach, Sie sind doch ein Goldmensch! Sie können, was Keiner kann. Sie schaffen mir meine Kinder wieder herbei.“
Eine Stunde darauf, als er mit dem Wagen vorfuhr, mußte ich ihm zu meinem großen Bedauern melden, daß ich ihn leider nicht begleiten könne. Ich weiß nicht mehr, was mir dazwischen gekommen war, nur so viel, daß es eine Abhaltung der dringlichsten Art war. Hätte Jemand die Mienen der Eltern sehen sollen, die sich schon im sichern Besitze ihres Liebsten und Theuersten glaubten! Die trüben Blicke der Eltern mahnten mich wie ein Vorwurf; ich rannte zum wachthabenden Officier, um noch ein Letztes zu versuchen. Zu meiner großen Freude bekam ich hier den Bescheid, daß die Wache um drei Uhr abgelöst würde – die Compagine hatte Marschbefehl erhalten. Ob eine neue Wache aufzöge, konnte mir der Hauptmann nicht sagen, aber er gab mir den Rath, Monsieur Houillot möge wenigstens versuchen, um die Ablösungsstunde mit dem Wagen am Thore zu halten, um im günstigen Falle losfahren zu können. Das war wenigstens eine günstige Aussicht, die man Monsieur Houillot bringen konnte. Als ich den Mann nach einigem Suchen mit Pferd und Wagen fand, peitschte er nach meinem Bescheide sofort auf die Rosse los – und nun ging’s mit einem schallenden Holala, helala wie Windesbrausen dem Thore zu. Ich folgte ihm. Hart an demselben kam mir die Compagnie entgegen. Der Hauptmann sagte mir, daß keine neue Wache aufgezogen, daß die Passage frei sei.
Als ich des Abends in den Flur eintrat, kamen mir Monsieur und Madame Houillot mit ausgestreckten Armen entgegen, Alles an ihnen war Glück und Seligkeit, und mit dem Ausdruck derselben riefen sie mir entgegen: „Sie sind da – sie sind da!“
Zu gleicher Zeit präsentirten sie mir zwei Mädchenexemplare, und fürwahr, die waren es werth, daß man sich um ihren Wiederbesitz so viel Mühe gegeben hatte! Die älteste im Alter von achtzehn Jahren glich der Mutter; es war ein wahrhaft schönes Mädchen, eine schlanke feine Gestalt von Seele und Anmuth durchhaucht. Das bleiche herrlich geschnittene Gesicht umgab eine Fülle dunklen Haares und unter demselben schauten ein Paar tiefe veilchenblaue Augen gar herzbezwingend hervor. Und diese Grazie, diese edle Feinheit des Benehmens, das ebenso sehr von Keckheit, als von Blödigkeit entfernt war! Ich habe selten ein so schönes Mädchen gesehen, das zugleich auch so anmuthig war. Zwischen der Aeltesten und Jüngsten lag eine Pause von nur sechszehn Jahren. Wie erstaunt mögen die Eltern gewesen sein, als eines schönen Morgens zwei neue himmelblaue Augen verwundert im Zimmer umherschauten, als wollten sie sagen: „Bin ich denn hier auch an die richtige Adresse gekommen?“ Ein wahrer Engelskopf, baus- und rothbäckig, umwallt von seidenen blonden Löckchen, die beiden Hände voll und zur Begrüßung des Fremdlings nur noch die vollen Kirschenlippen übrig behaltend.
[414] Das Dankgefühl der Eltern kannte keine Grenzen; sie erschöpften sich in Aufmerksamkeiten, und als ich des nächsten Tages, am Tage der Schacht von Mars la Tour, abfuhr, fand ich im Wagen noch eine Flasche Champagner vor, die uns nach dem heißen Schlachttage im Bivouacquartier von Buxières vortrefflich mundete. Natürlich wurde ich beim Abschied auf das Dringendste eingeladen, die Familie Houillot doch nicht zu vergessen, wenn der Zufall mich Pont à Mousson wieder näher brächte. Und ich war auch[1] so unvorsichtig, dieser Einladung Folge zu leisten.
Die turbulente, unseren Lesern aus einem früheren Berichte bekannte Nacht nach der Schlacht von Mars la Tour verbrachten wir in dem Weinorte Thiaucourt. Wir bivouakirten dann zwischen den beiden Schlachttagen, am 16. bis 18. August, in dem elenden Orte Buxières, in der nächsten Nähe des Schlachtfeldes. Der Meister desselben, Prinz Friedrich Karl, hatte nach dem Siegestage die Nacht unter freiem Himmel zugebracht, auch am folgenden Tage fast kaum eine Stelle finden können, wo er sein müdes Haupt niederlegen konnte. Ein einziges Haus bot ein nothdürftiges Unterkommen, und die holde landschaftliche Umgebung desselben war ein Berg aus Dünger, der im Scheine der Augustsonne gar liebliche Düfte entsandte. Hier vor dem Hause auf einem Stuhle sitzend, empfing der Feldherr die Meldungen und gab die Dispositionen für den achtzehnten August.
Weiter campirten wir vom 19. August, vom Tage der Einschließung von Metz an, bis zum 7. September auf dem Schlachtenplateau. O Doncourt und Malancourt, stolze Namensklänge, die an elende Nester verschwendet sind, eure Namen werden mir im ewigen Gedächtniß bleiben. Ich muß an euch denken, wenn ich die blauen Flecken meines Leibes betrachte, die ich mir auf euren Strohlagern, auf euren sogenannten Federmatratzen geholt habe, an denen alle Drähte losgegangen waren; ich muß an euch denken, wenn ich sauren Wein trinke, unsaubere Räume und isabellenfarbige Wäsche sehe, wenn ich gewisse sechsbeinige Quälgeister vergrößert in physiologischen Werken sehe; ich muß an euch denken, wenn ich von dem goldenen Tage von Pont-à-Mousson spreche und den Fleischtöpfen im Houillot’schen Hause. Wenn man sich in diesen Dörfern am Morgen begegnete, so wünschte man sich nicht mehr Guten Morgen, nein, an die Stelle des Grußes war die Frage getreten: „Was kochen Sie heute?“ Antwort: „Rindfleisch und Erbswurst.“ Ich: „Erbswurst und Rindfleisch. Morjen!“ Zur lebendigen Erinnerung an Doncourt haben wir einen Affenpintscher mitgenommen, der auch „Doncourt“ gerufen wird, Anderes wäre auch nicht mitzunehmen gewesen.
Endlich am 7. September stiegen wir in die sonnigen Gefilde des Moselthales nach Corny hernieder und einer meiner ersten Ausflüge war nach Pont-à-Mousson – zu der blauäugigen Familie. Diese schien einigermaßen überrascht, daß ich so schnell nach drei Wochen schon wiederkam, aber sie war doch recht freundlich und die Veilchenaugen Celestinens – so heißt die Achtzehnjährige – blickten so sanft und schwärmerisch, wie das erste Mal. Ich wurde auch mit Orangeliqueur und Biscuits regalirt, die kleine Zweijährige wollte wissen, was in all den Paketen sei, die ich bei mir hatte, sie vermuthete Bonbons und war sehr indignirt, als sie Siegellack fand.
Vierzehn Tage darauf wiederholte ich meinen Besuch, da schien er zu überraschen, die Mutter war, wie man in der Mark zu sagen pflegt, merkwürdig gekniffen, sie veranlaßte Mademoiselle Celestine, aus dem Zimmer zu gehen, und ich bekam keinen Orangeliqueur. Es wurde dunkel, ich wollte aufbrechen, um noch mit dem Zuge nach Corny respective nach Novéant zurückzufahren. Papa Houillot wollte mich zum Bleiben veranlassen. „Ich könnte für die Nacht mein altes Zimmer wieder beziehen,“ wollte er sagen, aber er sagte es nicht, das Wort blieb ihm im Munde stecken vor dem Blick, den ihm Madame Houillot zugeworfen. Es geschah mir ganz recht, warum beachtete ich nicht das Wort der Zigeunermutter in der Preciosa:
Bist Du wo gut aufgenommen,
Darfst Du nicht zweimal wiederkommen.
Nach Pont-à-Mousson trieb Einen auch schon die Noth. In Corny war gar nichts zu haben. Lichte, Seife, Butter, Papier, alle derartigen Artikel mußte man von dort holen. Die Eisenbahnfahrt währte nur dreiviertel Stunden, kostete zudem nichts, was ein Anreiz mehr war, die Tour zu machen, und schließlich ging man hin, wenn man an seinem Leichnam durch ein Bad einen gründlichen Reinigungsproceß vornehmen, wenn man wieder einmal von Tischtüchern essen, ein Bischen interessante Menschheit sehen wollte und endlich, um nicht ganz aus der Gewohnheit des Geldausgebens zu kommen. In Corny konnte man kein Geld los werden, wenn man es nicht zum Fenster hinauswerfen wollte, was Einen am Ende bei der Armenpolizei in den Verdacht eines unsichern Sanitätszustandes gebracht hätte. In Corny wohnte ich bei einem Stellmacher oder einem mécanicien, wie die Franzosen vornehm sagen. Während unserer sechswöchentlichen Anwesenheit ruhte die Wagenarbeit in der Werkstatt des Mannes ganz; statt Wagen machte er Särge, und wenn ich am lieblichen Herbstmorgen mein Fenster öffnete, so fiel mein erster Blick auf eine stattliche Reihe fertigen Fabrikates jeder Größe, das unter meinen Fenstern aufgestellt war. Der Typhus und die Ruhr wütheten in den um Corny eingerichteten Lazarethbaracken ganz entsetzlich; jeden Morgen mußte mein Wirth zwölf bis achtzehn Särge abliefern und dabei war er nicht der einzige Lieferant. Wir saßen in Corny wahrhaft in einer Pestbeule und mehrmals wurde vor jedem Hause ein Haufen Chlorkalk aufgeschüttet und mit Carbolsäure übergossen, um die Luft von den Miasmen zu reinigen. Mein Wirth führte einen großen Namen, er hieß Girardin, glich aber in sehr wenig seinem Namensvetter, er hatte nicht den Geist, er wußte nicht einmal, wer Friedrich der Große war, aber er hatte auch nicht die sonst allgemein gepflegten preußenfresserischen Gesinnungen. Er schien sogar eine Vorahnung zu haben, daß er deutsch werden würde, denn er erkundigte sich sehr frühzeitig und angelegentlich nach den preußischen Steuern, meinte, daß der Protestantismus eine sehr hübsche Religion sei, und versicherte zuletzt, am Ende sei es ihm ganz einerlei, deutsch oder französisch, wenn er nur Geld verdiene. Ja, das Geld hatte in seinen Augen, wie in denen aller seiner Landsleute, einen großen, einen ungeheuren Werth. Alle Gefühle, alle Eigenschaften, alle Vorzüge, alle Tugenden eines Menschen taxirte er nach baarer Münze.
Monsieur Houillot hatte nur seine Kinder fortgeschickt und die Frau wenigstens behalten, aber Monsieur Girardin hatte mit den zwei Kindern auch noch die Ehegattin nach Metz geschickt, und nun war die Klappe zugemacht, Madame konnte nicht mehr heraus und er nicht mehr hinein. Das war ein großer Jammer. Jeden Abend, wenn Licht angezündet wurde und er sich so vereinsamt sah, begann seine Klage.
„O welche Dummheit habe ich gemacht! Unter den Preußen wäre meine Frau doch viel sicherer gewesen, als in Metz. Hier war ich immer da, aber in der Festung – wer weiß, was da geschieht! Das heißt – ich meine,“ fügte er schnell hinzu, „was die Meinigen da zu leiden haben werden – Pferdefleisch, Kleienbrod! O mon Dieu! Vor lauter Liebe möchte ich sie mit Biscuit füttern, wenn sie nur erst da wären! O was war ich für ein Thor, meine Frau nach Metz zu schicken, und ich Thor war in meinen Gedanken auch noch sehr froh, daß ich sie noch hineingebracht hatte, ehe die Preußen kamen. Nun sitzt sie drin und Bazaine giebt den Schlüssel nicht heraus.“
Jeden Tag, wenn ich vom Schlosse kam, oder wenn er wußte, daß ich dort zur Tafel war, erwartete er mich mit der feststehenden Frage:
„Wie steht es, Monsieur? Ist Metz noch nicht bald über?“
„Ich glaube nicht. Bazaine läßt, wie Sie hören, noch immer schießen.“
Nun konnte man eine Fluth von Schimpfworten über den armen Marschall sich ergießen hören, nach Girardin’s Urtheil war derselbe nicht nur von unbändigem Ehrgeiz besessen, sondern auch der unfähigste aller Generale, der allein an Frankreichs Unglück schuld war, auf den noch die kommenden Geschlechter ihre Verwünschungen häufen würden, und das Alles nur, weil Madame Girardin in Metz festsaß und nicht, wie ihr Gatte so oft wünschte, per Ballon nach Corny befördert werden konnte. Die liebende Ungeduld des Mannes sollte noch auf eine harte Probe gestellt werden. Es verstrichen noch Wochen und Wochen. Sein Schmerz ging mir wahrhaft zu Herzen, namentlich wenn er mit Thränen in den Augen sagte:
„Ich wollte mich doch gern gedulden, wenn ich nur wüßte, ob sie noch am Leben sind. Dem Kleinen wird die Milch fehlen, und wenn das Kind mir stürbe – ich wollte nicht zehntausend Franken darum nehmen.“
Eines Tages jedoch kam Nachricht von Madame Girardin [415] heraus – sie waren Alle noch am Leben und frisch und gesund. Durch meine Vermittelung nämlich war es ihm möglich geworden, einen offenen Brief an seine Frau nach Metz zu senden, Marschall Bazaine ließ von Zeit zu Zeit Privatbriefe in offenen Couverts an das preußische Obercommando gelangen mit der Bitte, dieselben an ihre Adresse befördern zu lassen; es waren offene Correspondenzen in Privat- und Familienangelegenheiten, aber nur solche, die an Adressen in den von uns bereits besetzten französischen Landestheilen lauteten; ebenso ging dann auch die Antwort durch die preußische Militärbehörde nach Metz zurück, und auf diesem Wege war es mir gelungen, für den Geängstigten Nachricht und Antwort zu befördern. Nun gewann sein vergrämtes Gesicht wieder einen heitern Ausdruck, nun hob sich seine Seele wieder, nun pfiff er wieder französische Chansonnettes, trotzdem ihm unsere Soldaten noch manchen Kummer machten. Er hatte außer zwei Officierquartieren noch weitere Räume des Hauses mit zwölf bis zwanzig Mann belegt und jeden Tag kam er mit einer andern Klage. Bald hatten die Soldaten ihm so und so viel Eier aus dem Hühnernest genommen – er wußte die Zahl ganz genau, so und so viel Hühner hatten gegackert, also waren so viel Eier da, und nun keines mehr –; bald waren ihm seine gebackenen Pflaumen, seine „Quetsch“ auf unerklärliche Weise, wahrscheinlich in die kriegerischen Magen verschwunden, und an den Kochherd, um sein Hammelfleisch mit Champignons zu braten, ließen sie ihn nun schon gar nicht mehr hinan; sie belagerten denselben ausschließlich, denn sie kochten und äßen den ganzen Tag; dabei fiele es ihnen nicht einmal ein, auch nur ein Gefäß zu reinigen. Wenn seine Frau nun käme und den Zustand ihrer Töpfe und Casserolen sähe! Und wenn das nicht bald geschehe, dann gehe die ganze Wirthschaft zum Teufel. „O Monsieur, ist denn Metz noch nicht bald über?“
Endlich am Morgen des 27. October konnte ich ihm sagen:
„Monsieur Girardin, Ihre heldenmüthige Ausdauer soll belohnt werden. Bestellen Sie zu Sonntag Morgen einen Wagen, fahren Sie nach Metz, umarmen und holen Sie Ihre Frau und Kinder – Metz capitulirt.“
„Wirklich? Endlich – endlich!“ rief er und warf vor Freude seine Mütze durch die ganze Länge des Zimmers. „Marschall Bazaine ist doch ein großer General. Ich sehe, daß ich dem Manne manchmal Unrecht gethan habe.“
Am Tage nach der Uebergabe war ich das erste Mal in Metz und kehrte gegen Abend nach Corny zurück. Auf dem Wege wurde ich plötzlich angerufen. Ich ließ den Wagen halten, um zu hören, woher die Stimme komme. Ein einspänniges offenes Wägelchen setzte sich in schärferen Trab, um zu mir heranzukommen, und wen erkenne ich? Monsieur Girardin, den ich in diesem Costüme nimmer erkannt hätte! Sonst hatte ich ihn nur in der Blouse gesehen, und heute trug er zur Feier des Tages einen blauen rothgefütterten verschnürten Burnus; auf seinem Schooße saß der älteste Junge von vier Jahren, neben ihm Madame mit dem jüngsten Kinde, und hinter dem Sitze waren Kinderbetten, eine Wiege, ein ganzer kleiner Haushalt aufgepackt. Ich habe lange kein glücklicheres Menschenantlitz gesehen, Vater Girardin fand gar keine Worte, er wies immer nur auf seine Frau und seine Kinder.
Madame hatte eine eigenthümliche Praxis, um sich mit ihrem Französisch den Deutschen verständlich zu machen. Sie vermuthete wahrscheinlich den Sitz des Verständnisses der Sprache im Ohr anstatt im Geiste und schrie Einen an, als ob man taub wäre. Im Uebrigen schien sie eine vernünftige Frau zu sein, sie entsetzte sich gar nicht so sehr über den allerdings erschreckenden Zustand ihrer Wirthschaft, sie machte sich frisch und flink daran, Alles wieder in Stand zu setzen. Als ich am Morgen des zweiten November von dem Ehepaare Abschied nahm, um weiter südwärts zu ziehen, konnte ich den Eindruck einer geordneten und glücklichen Häuslichkeit mit mir nehmen. Die Küche, die zugleich Wohnstube, war gescheuert, getüncht, die Pfannen und Casserolen glänzten wie neu versilbert, in die Bettladen waren die versteckt gewesenen Matratzen wiedergekehrt, ebenso ließ eine hübsche Pendüle, die ich nie gesehen und die nach Girardin’s Geständniß unterdeß im Backofen studirt hatte, ihr trauliches Ticktack ertönen, am Kamin war Kinderwäsche aufgehangen und auf das im Korbe schlafende Jüngste deutend sagte mir mein Wirth:
„O Monsieur, nun sind alle Leiden des Krieges wieder vergessen, nun sind selbst die Casserolen wieder gescheuert, nun wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie ebenso glücklich werden möchten, als ich es jetzt bin, wo ich Frau und Kind aus Metz heraus habe. Adieu! Bon voyage!“
Auf unserem Vormarsche gen Orleans hatten wir vierzehn Marschquartiere, und dabei war ich heute bei einem Pächter, morgen bei einem Fabrikanten oder einem Rentier, übermorgen bei einem Priester untergebracht. Mit der Zeit aber gewinnt man an diesem Wechsel von Persönlichkeiten und Verhältnissen Geschmack, und wer Interesse daran findet, den Leuten ein Bischen in die Töpfe und in die Kammern des Hauses und des Herzens zu gucken, der konnte sich bei dieser Weise, durch das Land und unter Leute zu kommen, vollauf Genüge thun und hatte hinreichende Gelegenheit, über das französische Haus und das Leben und Weben in demselben manche Beobachtung zu machen, die einem unter anderen Verhältnissen Reisenden wohl vorenthalten blieben. Ein Quartierbillet, das nach dem Gesetze von 1792 dem Inhaber Quartier und einen Platz am Feuer einräumt, ist viel günstiger als ein Eisenbahnbillet, mit dem man wohl französische Städte und Hôtels kennen lernen, aber niemals den Pulsschlag nationalen Lebens im Innern der Häuser belauschen kann.
Das französische Haus und die Lebensweise in demselben ist bei Weiten weniger mannigfaltig und individuell als in einem deutschen. Es existiren zwar wohl auch Abweichungen, zum Beispiel zwischen einem Fischerdorfe in der Normandie und einem Flecken in dem Departement Basses Pyrénées, aber diese werden immerhin nicht so erheblich und charakteristisch sein, als die zwischen einem Dorfe des Schwarzwaldes oder des bairischen Hochgebirges und der Gegend um Pillkallen oder Aurich in Ostfriesland. Die französische Regierung hat seit dem Regime Richelieu’s eifrigst dafür gesorgt, daß die Eigenthümlichkeiten der einzelnen französischen Landestheile möglichst verwischt, und daß Land und Volk über einen Kamm geschoren werden. Wirklich ist dieses Ziel im Laufe zweier Jahrhunderte erreicht worden. Zum Beweise, bis zu welchem Grade in Frankreich Alles uniform geworden ist, will ich das erste beste Stück aus der häuslichen Wirthschaft herausnehmen, und so an dem kleinen das Große veranschaulichen. Mit dem Uebertritt über die französische Grenze bekommt man zum Milchkaffee ein Gefäß, das man im letzten bairisch-pfälzischen Grenzdorfe nicht kennt, welches jedoch eine halbe Meile weiter im ersten französischen seinen Anfang nimmt und dem man von da an durch ganz Frankreich begegnet, den sogenannten bol, einen schüsselartigen Napf von Porcellan oder Thon, in dem ein Eßlöffel liegt; dazu erhält man heiße Milch und in einer kleinen Flasche kalten Kaffee-Extract, den man in die heiße Milch gießt. Dieses Gefäß ist typisch durch das ganze Land, typisch wie die Einrichtung und die Lebensgewohnheit des französischen Hauses, typisch wie der Kamin und das ausgezeichnete Bett.
In jeder französischen Küche baut sich ein gewaltiger Kamin auf; an einer Kette, die in die Hinterwand eingefügt ist, hängt der Wasserkessel, unter demselben ist das Feuer angezündet und um dasselbe herum werden die verschiedenen Töpfe und Schmorpfannen gestellt. Alle Arbeit muß knieend verrichtet werden; zur Bequemlichkeit hat man niedrige Strohstühle mit Lehnen, auf denen sitzend man den Geheimnissen des Herdfeuers lauschen kann. In größeren und feineren Häusern sind neben dem Kamin auch noch Herde gebaut, dieselben haben Bratröhren und an der Oberfläche Vertiefungen von glasirten Kacheln, die mit Kohlen gefüllt und auf welche dann die Casserole gestellt werden. Das ist aber nur für Leute, die zum Diner wenigstens drei Platten und eine Revenue von mindestens fünfzehntausend Franken haben. Für die minder gut situirten Existenzen reicht der Pot au feu aus.
Einen gewissen Luxus findet man selbst in der bescheidensten Haushaltung, so den Marmorkamin im Wohn- oder Schlafzimmer und darauf die übliche Stutzuhr. Wie hatten uns im vergangenen harten Winter diese Kamine zur Verzweiflung gebracht! Nie, niemals, und wenn wir einen kleinen Wald in den Feuerraum legten, hatten wir im Zimmer das behagliche Gefühl, das ein deutscher Ofen verbreitet; vorn briet man und im Rücken setzten sich die Eiszapfen an. Wenn man den Franzosen dann sagte: „Seht ’mal, Ihr guten Leute, was Ihr doch bei Eurer sonstigen Sparsamkeit für arge Verschwender seid! Mit dem Holze, das Ihr an einem Tage für Euren Kamin braucht, heizt eine deutsche Hausfrau einen deutschen Ofen acht Tage lang. Das Zimmer wird badwarm und Allen darin wird es pudelwohl, aber mit Euren verwünschten Kaminen kommt man nie zu einem Gefühle des Behagens?“
„Eh-bien, was wollen Sie?“ war darauf die Antwort. „Wir sind es so gewöhnt, wir müssen das Feuer sehen.“
Darin sind die Franzosen wie die kleinen Kinder; vor dem Kamine sitzend, die Füße auf das garde-feu gestellt, arbeiten sie unaufhörlich mit der Feuerzange in der Gluth umher, legen sorgfältig ein Köhlchen auf das andere, erzählen sich was und bilden sich ein, sie wärmen sich. Dabei frieren sie wie die Betteljungen im Januar, haben rothe Hände und rothe Nasen, aber sie sehen das Feuer. Dabei existirte für uns auch noch die Annehmlichkeit, daß in den kleineren Orten der Fußboden mit Backsteinen ausgelegt war. Mancher von unseren Soldaten wird’s an seinen Füßen für sein Lebenlang spüren. Die Franzosen allerdings hatten einen Schutz gegen diese eisige Fußbodentemperatur. Sie trugen über den Strümpfen schwarze wollene Söckchen und bargen die Füße in warmen Holzschuhen, die nach Façon und Farbe das Aussehen von lackirten Stiefeln haben. Später allerdings, als unsere Soldaten einsahen, daß ihre Lederstiefeln für dieses Parquet nicht Schutz genug boten, bedienten sie sich ebenfalls mit Vorliebe dieser Holzschuhe, die zierlich gemacht und zugleich praktisch sind. Eine gewisse Berechtigung für diese Art der Feuerung und überhaupt für die Kamine liegt in der Milde des Klimas der dortigen Gegenden; der vergangene Winter war eine Abnormität.
Seit dreißig Jahren hatte man in Frankreich noch keinen solchen Thermometerstand gekannt wie im verflossenen December und Januar; die Lorbeerbäume, die im Freien überwintern, erfroren sammt und sonders. Wir ließen vom Hofe die größten Holzscheite holen und schoben davon drei, vier auf einmal in den Kamin; zur Hälfte lagen sie in der Gluth, zur Hälfte noch im Zimmer, so daß man sie, um das Feuer zu unterhalten, nur weiter vorzuschieben brauchte. Dadurch allein war es möglich, eine einigermaßen erträgliche Temperatur herzustellen. Für größere Räumlichkeiten reicht der Kamin nicht aus. In den Gerichtssälen und Localen, in den öffentlichen Gebäuden hat man eiserne Oefen, die mit Kohlen oder Coaks geheizt werden; auch ist vielfach die Luftheizung in Anwendung gebracht; auch schon in Privathäusern fängt man an, eine praktischere Heizeinrichtung herzustellen, indem man ein Mittelding zwischen Ofen und Kamin erfunden hat. Mein Wirth in Pithiviers, der Vorsteher der dortigen Jesuitenerziehungsanstalt, der immer eine kleine Bosheit gegen uns auf der Zunge hatte, sagte mir eines Tages, als ich ihm einen kleinen Vortrag über Oefen und Heizmethode hielt und es sonderbar fand, daß er für sein neues Haus diese neue Erfindung nicht benutzt hatte: „Allerdings hätten wir diese Kamine einführen können, aber wir lieben sie schon um ihres Namens willen nicht; ob ihres Sparsystems nennt man sie bei uns preußische Kamine.“
„Aber Sie sehen, hochwürdiger Pater, daß das preußische Sparsystem vortreffliche Früchte trägt, denn nur dadurch konnten wir ein solches Heer ausrüsten, so viele Kanonen gießen lassen. Ich kann Ihnen also nur rathen, es auch bei Ihnen einzuführen. Ihre Zöglinge werden sich viel wohler dabei fühlen, es sei denn, daß sie in majorem dei gloriam sich die Knochen im Leibe entzwei frieren müßten.“
Im Ganzen und Großen habe ich auf unseren Zügen durch die französische Provinz an häuslichen Einrichtungen nichts gefunden, was mir besonders imponirt hätte, geschweige denn, daß dieselben den Vorrang vor den deutschen beanspruchen könnten. Im Gegentheil, das französische Haus wird vom norddeutschen an praktischer Solidität, vom süddeutschen an elegantem Comfort übertroffen. Zu der Heimathlichkeit, Wohnlichkeit und Traulichkeit des deutschen Hauses fehlt dem französischen ein wesentliches Merkmal, die gute Wäsche. Wie das Quantum des Verbrauchs an Seife ein Maßstab für den Culturzustand eines Volkes ist, so ist es die Wäsche für den Grad häuslichen Behagens. Damastdecken zum Beispiel, wie sie bei uns jede nur ziemlich situirte Hausfrau besitzt, habe ich in Frankreich nur zweimal gesehen, bei [435] dem Prinzen von Beauffremont auf Schloß Brienne-Napoléon und in der Präfectur von Orleans, sonst nirgends. Die Tischwäsche, Tischtücher, Servietten bestehen aus gewöhnlicher Leinwand, von der Qualität, wie man sie in Deutschland zur Nachtwäsche nimmt; die französische Leinwand ist fester, kerniger als die unsrige, dafür erscheint sie aber auch gröber und unebener als diese.
Zu der wohnlichen Stimmung des deutschen Hauses fehlt es dem französischen wesentlich an einem Möbel, das sich bei uns überall eingebürgert hat, gleichviel ob es mit den schwellendsten seidenen Polstern oder mit einer harten Seegrasfüllung hergestellt ist; ich meine den Kanon philiströser Behaglichkeit, den Schauplatz süßer Ruhe, den Gegenstand, der einen Crebillon zu einem etwas frivolen, aber höchst amüsanten Buche begeistert hat, ich meine das Sopha. Nur in vornehmen Häusern, und da nur in den Empfangszimmern, findet man dergleichen, sonst nicht, Fauteuils überall, aber Sophas nur in Ausnahmen. Diese scheinen zu dem Bette gerechnet zu werden, wie das Sopha im Grunde nur aus dem Bette entstanden ist. Unter Ludwig dem Vierzehnten empfing eine Dame von Stande im Bette liegend ihre Besuche. Ein französisches Bett ist aber auch nicht nur der Inbegriff des höchsten Luxus, sondern auch der süßesten Annehmlichkeit; es ist der Capital- und Prachtschmuck des französischen Hauses von dem Palast bis herab zur Hütte. Mag eine Wirthschaft noch so ärmlich und miserabel sein, das Bett wird man immer gut bestellt finden. Die Bedeutung, die für eine deutsche Haushaltung ein reichgefüllter Wäscheschrank, hat für die französische das Lager, auf dem man Nachtruhe hält. Bekanntlich gehören die Franzosen unter die Nationen, die am wenigsten reisen; wenn man sie nach dem Grunde dieser Erscheinung fragt, so wird der Eine sagen: ich habe kein Geld zum Reisen, der Andere: ich bin zu faul dazu; aber Jeder wird dem noch beifügen: ich finde anderwärts unser Bett nicht wieder. Und darin hat er vollkommen Recht.
Der Wirth, bei dem ich in Orleans während unseres ersten dortigen Aufenthaltes wohnte, erzählte mir von einer Rheinreise, die er mit seiner Frau gemacht hatte. Unendlich drastisch und drollig war die Schilderung der Manipulationen, die er machte, um sich mit den kurzen, schmalen deutschen Betten abzufinden. So ein französisches Bett ist aber auch ein kleines Gebäude. Dem Umfange nach ist es so breit als lang und besteht in einer sehr schweren, massiven Bettlade aus polirtem Nußbaum- oder Mahagoniholz. Ich rede hier nur von mittleren Haushaltungen, in feineren Häusern findet man solche von Acajou- oder von vergoldetem Holze. Diese Bettlade ist ein so gewichtiges Möbel, daß, um sie zu bewegen, auf dem Fußboden kleine Schienen liegen, auf denen sie in messingernen Rädern geht. Nur so kann sie von einem Dienstmädchen beim Aufbetten bequem und leicht von der Wand in die Mitte des Zimmers und ebenso wieder zurückgeschoben werden. Der Boden der Bettlade ist von einer Stahlfedermatratze ausgefüllt, die aber von ganz anderer Construction ist, als die in Deutschland gebräuchlichen. Schmale, biegsame Holzstäbe laufen in der Länge des Bettes und werden am Fuß- und Kopfende von kleinen starken Spiralfedern von Draht festgehalten. Auf diesem etwas gewölbten elastischen Unterboden liegt eine dichte Matratze, die halb mit Roßhaaren, halb mit Schafwolle gefüllt ist, so zwar, daß eine Lage mit der andern abwechselt. Darauf liegt ein leichtes Federbett und auf diesem noch zwei dünnere Matratzen des nämlichen Inhalts wie die erste. Ueber die oberste ist eine sehr feine, weiche wollene Decke gespannt und über diese erst das Laken gebreitet. Dasselbe hat wenigstens die doppelte Länge des Bettes, an dessen Kopfende ein großer runder, ebenfalls mit Schafwolle und Roßhaaren gepolsterter Pfühl liegt. Dieser wird in das Laken eingewickelt, dann geht dasselbe bis an das Fußende, wird hier umgeschlagen und reicht wieder herauf bis unter den Pfühl, also bis an die Halshöhe dessen, der darin liegt. Die Decke des also construirten Ruhelagers richtet sich nach der Jahreszeit; im Winter bildet dieselbe eine weiche weiße Lamadecke, darüber man noch eine seidene Steppdecke legt, und ein von den Füßen bis zu den Knieen reichendes Federbett, mit Daunen gefüllt. Das Laken sowie die Couvertdecken sind am Fußende und an den Seiten unter der Matratze festgestopft; am Abend wird ein Zipfel oben am Pfühle zurückgeschlagen, und durch diese Oeffnung kriecht man nun hinein, wie in einen Sack. Kriechen ist aber nicht der eigentliche Ausdruck, es bedarf schon eines eleganten Turnerschwunges, um die nicht unbeträchtliche Höhe zu erreichen, aber dann wird man auch reichlich belohnt durch das vollste, süßeste, innigste Wohlbehagen. Man kann sich in die Länge und in die Quere legen, wie man Lust hat, man kann die Gliedmaßen nach allen Richtungen hin ausstrecken, und wer noch nicht müde ist, mag sich sogar durch gymnastische Uebungen den Schlaf präpariren. Raum ist genug vorhanden. So fand ich es überall. Dabei flackerte im Kamine lustig die Flamme, der rothe Schein derselben drang durch die Farben der von allen Seiten niederwallenden Bettvorhänge, rosiges Licht überfluthete Einen – man vergaß, daß man eigentlich auf einem Vulcane schlief, man vergaß die Franctireurs, die Mitrailleusen, Granaten und Gambetta, man athmete nur im Gefühle des wonnigsten Daseins, durch das Zimmer knisterte es wie eine leise Schlummermelodie und so schlief man seine acht, neun Stunden weg, bis am Morgen die Bettvorhänge sich öffneten, dunkle Augen unter schwarzem Haare und einem weißen Häubchen hereinschauten und französische Laute sich vernehmbar machten, in der Frage: „Monsieur veut-il avoir du feu?“ – Will der Herr Feuer? –
Wenn ein Corps in ein Departement oder in eine Stadt, in welcher vorher noch keine deutschen Truppen waren, einrückte, so machte der commandirende General desselben in einem Maueranschlage bekannt, was von Seiten der Einwohner den Officieren und Mannschaften geliefert werden mußte. Erstes und zweites Frühstück und Diner, die Beschaffenheit dieser Mahlzeiten unterschied sich nach dem Range der Officiere und der Mannschaften; erstere hatten drei Platten zu bekommen, bei letzteren war das Quantum des Fleisches und Weines normirt; nur in den fünf Cigarren per Tag war kein Unterschied, ebensowenig wie beim ersten Frühstück, das aus Kaffee mit Milch und Brod bestehen sollte. Im französischen Hause ist dieses nicht üblich; man genießt vor dem Frühstück, das um elf Uhr eingenommen wird, nichts, höchstens eine kleine Tasse schwarzen Kaffees oder Chocolade, und die Landleute ein Glas Wein mit einem Stücke Brod. Das zweite Frühstück richtet sich natürlich nach Stellung und Vermögen eines Hauses; zuerst wird ein Ragout gegeben, in dessen Bereitung die französische Küche bekanntlich Meisterin ist. Man ißt sich an den Champignons und Trüffeln für einige Tage krank, um, sobald man durch hartnäckiges Hungern den Magen wieder in Ordnung gebracht hat, doch wieder dem nämlichen Laster zu verfallen. In einfacheren Haushaltungen ist das feststehende Frühstücksgericht eine Schüssel gedünsteten Hammelfleisches mit Kartoffeln, die vortrefflich zubereitet ist.
Das Geschlecht der Hammel ist das allnährende Element der Franzosen in animalischer Beziehung; Hammelfleisch ist ihre Nahrung jeden Tag, mit und ohne Pilze, gekocht, gebraten, geschmort, als Ragout, Cotelette, Braten, Hammelfleisch ohne Ende bis zur Erschöpfung. Da eine Nation mehr oder weniger immer ein Product ihrer Nahrung sein wird, und da nach dem Volksglauben Hammelfleisch capriciös und hoffärtig machen soll, so mag es daher wohl auch kommen, daß den Franzosen im Laufe der Zeiten die Wolle so sehr gewachsen ist.
Nächst dem Hammelfleische bildete Geflügel eine stehende Platte unserer Mahlzeiten; anderes Fleisch, vornehmlich große Braten, waren schwer zu beschaffen, dagegen gab es an Geflügel keinen Mangel, namentlich solange noch die Cernirung von Paris dauerte und dieser Riesenmagen uns noch nicht alle Vorräthe der Provinz verschlang. Ich habe niemals größere, fettere und zartere Truthähne und Hühner gesehen und gegessen, als in den Gegenden der Loire und im Departement der Sarthe. Die Hühner von Le Mans und aus La Flêche haben ein europäisches Renommée. Was man dagegen von dieser Gattung in Deutschland erzeugt und selbst den Muth hat, gebraten auf den Tisch zu setzen, muß wie eine Ironie, wie ein Hohn auf das edle Geschlecht alles Gefiederten erscheinen. Einer meiner Bekannten, der als Officier im Felde steht und dessen Amusement zu Hause ein Hühnerhof ist, schrieb jüngst seiner Frau:
„Ich bitte Dich, liebes Kind, ehe ich nach Hause komme, allen unseren Hühnern die Hälse umzudrehen; ich kann sie jetzt nicht mehr sehen, noch weniger essen.“
In Orleans kaufte man einen fetten Truthahn für zehn Franken und in Le Mans ein Huhn um zwei und dritthalb Franken. Später allerdings in Fontainebleau mußten wir für ein Huhn einen Thaler achtzehn Silbergroschen bezahlen, aber da hatten wir auch Frieden, und die Franzosen das Recht, uns tüchtig zu prellen.
[436] Der Platte mit Ragout, um wieder zu unserem Dejeuner zurückzukehren, folgte meistentheils ein gebratener Vogel mit Salat, dann gab es apart ein Gemüse, meistentheils Rosenkohl oder Spinat, Sauerampfer, sehr häufig kamen auch weiße Bohnen, darauf eine Patisserie, irgend ein Kuchen, Aepfel und Nüsse, Mandeln, Traubenrosinen, Confitüren, Butter und Käse, und den Beschluß machte Kaffee.
Das Diner, das gewöhnlich um halbsieben Uhr eingenommen wurde, unterschied sich von dem Dejeuner durch das Auflegen eines Tischtuches, und den Inhalt des Pot au feu, durch die Suppe. In diesem durch den bekannten Ausspruch Heinrich’s des Vierten historisch gewordenen Gefäße wird ein großes Stück Rindfleisch mit einem Kohlkopf, allen Sorten Rüben, unter anderen auch Rettigen gekocht; in eine Suppenterrine wird Brod eingeschnitten und die Bouillon aus dem Topfe darauf gegossen, dazu werden der Kohl und die Rüben umhergereicht; eine andere Suppe bekommt man fast nie. Erst als ich den Wunsch nach einer Abwechselung äußerte, ließ man anstatt Brod das ABC in Nudelteig gedrückt in der Bouillon herumschwimmen. Hie und da wurde die Zahl der Platten noch durch eine Seezunge vermehrt, nach derselben und nach dem Rindfleisch gab man ein Ragout, dann Braten, und darauf ein Gemüse. Das Dessert blieb dasselbe wie beim Frühstück. Obst und Confitüren fehlen bei keiner französischen Mahlzeit; unter letzteren verstehen die Franzosen eine Marmelade aus Himbeeren oder Erdbeeren, Aprikosen, Pfirsichen oder Quitten, an die wir uns bald gewöhnt hatten, da sie, trotz der Versetzung mit Zucker, doch den lieblichsten Fruchtgeschmack bewahrten. Ein größerer Genuß war für uns das wunderschöne Obst. Wir saßen so mitten im Lande der Hesperiden drinnen; die Gegenden von Orleans bis Tours exportiren jährlich für Millionen von Franken an Obst nach England. Die Reben, die zuerst nach Deutschland unter Karl dem Großen kamen, waren Orleansreben. Wir hatten im Winter noch Trauben, Birnen von mehreren Pfunden an Gewicht, vornehmlich aber ausgezeichnete Aepfel.
Mehrmals wurde ich von ganz gebildeten Leuten gefragt, ob wir in Deutschland auch Aepfel hätten. Wenn man ihnen dann antwortete, daß wir Aepfel, Birnen, Trauben und sogar Feigen in Fülle hätten, daß die Gärtner um Berlin einen Exporthandel mit Ananassen, die im Sande der Mark gezogen seien, trieben, dann wollte ihr Erstaunen kein Ende finden. Darin waren sie merkwürdig naiv; sie betrachteten sich wie das auserwählte Volk Gottes, berechtigt zum alleinigen Besitz aller Erdengenüsse. Wir Deutschen gingen nach ihrer Meinung noch in Thierhäuten umher und nährten uns von Wurzeln und Eicheln.
In Tours servirte man mir eines Tages einen Hummer. Mit etwas verlegener Miene frug der Herr des Hauses, ob ich das Gericht auch kenne und zu essen verstände. Ohne ein Wort zu sprechen, zerlegte ich den Hummer ganz kunstgerecht und fing dann an in einem Grade zu essen, daß für die Uebrigen fast nichts mehr übrig blieb, worauf der Herr des Hauses seiner Madame ganz verwundert zurief: „Il est connaisseur!“ (Er versteht sich darauf!) Dies zu zeigen war auch meine Absicht gewesen. Ebenso verhielt es sich mit den Weinen. Kam man in das Quartier, so sprachen die Wirthe ihr Bedauern aus, kein Bier zu haben; denn sie wußten, daß die Deutschen doch nur Bier tränken. Wenn aber eine Mahlzeit vorüber war, und sie die leeren Weinflaschen sahen, dann mußten sie sich auch sagen: Il est connaisseur! Nicht allein von meiner Wenigkeit, von uns Allen. An das Gute gewöhnt sich der Mensch leicht; unsere Soldaten haben nie so gut gelebt und werden es vielleicht auch nicht mehr, als in den Gegenden der Loire. Den saueren Rothwein der Mosel um Metz mochten sie schon nicht mehr, desto mehr mundeten ihnen die milden Weine der Loire und die von Burgund. Wie hätten sie ohne den Wein auch die furchtbaren Strapazen des Winterfeldzuges aushalten können!
Nach diesen Bemerkungen über das französische Haus werde ich in einem nächsten Artikel mit meinen Erlebnissen und Beobachtungen in französischen Quartieren auf unserm Vormarsch nach dem Süden fortfahren.
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