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Skizzen aus deutschen Parlamentssälen/3. Die nationalliberale Partei

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Titel: Skizzen aus deutschen Parlamentssälen. 3. Die nationalliberale Partei
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aus: Die Gartenlaube, Heft 14
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1881
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Skizzen aus deutschen Parlamentssälen.
3. Die nationalliberale Partei.

Keine Partei ist so eng mit der Geschichte unseres jungen deutschen Reiches verwachsen, wie die nationalliberale. Sie hat an dem Zustandekommen der Verfassung des norddeutschen Bundes, die im Wesentlichen auch die des neuen Reiches ist, einen entscheidenden Antheil, und ebenso an den zahlreichen und wichtigen Gesetzen, welche erst der norddeutsche, dann der gesammtdeutsche Reichstag mit den Regierungen vereinbarte. Ja, man kann mehr sagen: sie ist die Mutter des Gedankens gewesen, der in dem deutschen Reiche endlich seine Verkörperung fand, wenn es auch nicht ihr, sondern einem Andern beschieden war, diesen Gedanken in’s Leben zu führen.

Nach ihren Traditionen, nach dem Geiste der von ihr befolgten Politik, ja auch nach einem Theile, und nicht dem mindest bedeutenden, ihrer Mitglieder und Führer, ist die nationalliberale Partei dieselbe, die 1848 im Frankfurter Parlamente als „Erbkaiserpartei“, 1849 als Partei der sogenannten „Gothaner“, seit 1859 wiederum als „Nationalverein“ thätig und mit allen ihren Bestrebungen fortwährend auf das gleiche Ziel gerichtet war: auf eine kraftvolle Einigung Deutschlands in der Form eines monarchisch-constitutionellen Bundesstaates unter der Führung Preußens.

Zu der Entstehung der nationalliberalen Partei im Reichstage haben zwei Strömungen zusammengewirkt, die sich in ihr verschmolzen, nicht ohne daß jede derselben etwas Eigenartiges von ihrem Ursprunge beibehalten hätte. Für Preußen war das Geburtsjahr der gegenwärtigen nationalliberalen Parteigruppirung – erst im preußischen Abgeordnetenhause, dann in dem altpreußischen Theile der nationalliberalen Fraction im Reichstage – das Jahr 1866. Nationalgesinnte, vor Allem die Einheit des großen deutschen Vaterlandes erstrebende Männer hatte es unter den Liberalen Preußens lange gegeben. Nicht alle freilich waren dies: es fanden sich unter den preußischen Liberalen auch specifische Preußen, ferner solche, welche vor Allem nur den freieren Ausbau des inneren Staatslebens ihres preußischen Vaterlandes betrieben, endlich solche, welche zwar wohl das Ziel, ein kräftiges Gesammtdeutschland, wollten, aber ihre ideologischen Wünsche nach der freiheitlichen Seite hin so hoch spannten, daß sie dadurch jenes Ziel, statt näher, vielmehr in unabsehbare Ferne rückten. Waren es doch preußische Liberale, welche bei der ersten entscheidenden Abstimmung über das zu errichtende deutsche Kaiserreich im Parlament zu Frankfurt durch ihre verneinenden Stimmen die Bildung einer Majorität für dasselbe verhinderten.

Der Nationalverein, diese weitere Etappe in der Entwickelung einer nationalen deutschen Partei, war außerhalb Preußens entstanden und zählte auch unter seinen Mitgliedern und seinen Wortführern eben so viele Nichtpreußen wie Preußen. Jene gehörten großentheils den sogenannten altliberalen Parteien in den Kleinstaaten, die Preußen zumeist der Fortschrittspartei an. Das Hauptinteresse der Liberalen Preußens war indeß damals auf brennende innere Fragen gerichtet, erst auf die Frage der Heeresorganisation, dann auf die damals entsprungene Budget- und Verfassungsfrage. Vor diesen Ausgaben traten alle andern zurück.

Die deutsche Frage erschien ohnehin damals, und noch 1866, ziemlich hoffnungslos. Die Mittelstaaten und Oesterreich schmiedeten

[225]

v. Benda.
Miquél. Hobrecht. v. Bennigsen.

Die Führer der Nationalliberalen.
Nach Photographien auf Holz gezeichnet von Adolf Neumann.

[226] ihre „Bundesreformpläne“, von denen man im Voraus wußte, daß sie entweder nicht ernst gemeint oder, wenn dieses, dann nur um so gefährlicher für die wahren Interessen sowohl der Freiheit, wie der Einheit waren. Preußen verhielt sich lediglich ablehnend, passiv: es hinderte Schlimmeres, aber es that selbst nichts, um das gewünschte Bessere herbeizuführen. Zumal als an die Spitze des preußischen Ministeriums ein Mann gestellt ward, der vom Erfurter Parlament (1850) her als ein Gegner der nationaldeutschen Bestrebungen, als ein Vertreter des specifischen Preußenthums, als ein warmer Verteidiger der Rechte Oesterreichs bekannnt war, Herr von Bismarck-Schönhausen, schien jede Hoffnung auf eine Verwirklichung des deutschen Gedankens durch Preußen auf unberechenbare Zeit vertagt, und nur das Eine blieb noch übrig: die verfassungsmäßige Freiheit im Innern Preußens gegen die von solcher Seite auch ihr, und ihr zunächst, drohenden Gefahren zu retten.

So schloß sich die schon zuvor, in Folge des sogenannten „Conflicts“, in Preußen entstandene „Fortschrittspartei“ immer enger zum rühmlichen und mannhaften Kampfe gegen das verfassungswidrige „budgetlose Regiment“ Bismarck's zusammen und wandte alle ihre Kräfte nach dieser Seite. Zwar hatte sie sich bei ihrem Entstehen „Deutsche Fortschrittspartei“ getauft, um damit zu bekunden, daß sie die Fühlung mit den großen gemeinsamen Angelegenheiten Deutschlands über ihren nach innen gerichteten Aufgaben keinesfalls aufgebe; allein die Umstände selbst rissen sie vorwiegend nach dieser innern Seite hin, und überdies konnte sie mit gutem Grunde sagen, sie bekämpfe in Bismarck zugleich den Feind des deutschen Gedankens und diene damit auch diesem letztern.

Da geschah plötzlich das Unerwartete, wohl kaum von irgend jemand Geahnte: derselbe Bismarck, den man bisher nur als einen specifisch preußischen Junker gekannt, nahm die deutsche Politik Preußens aus dem Jahre 1849, die er damals bekämpfte, wieder auf, aber nicht in der schwächlichen, schwankenden, unaufrichtigen Weise, wie sie das Ministerium Manteuffel gehandhabt, vielmehr mit einer rücksichtslosen, auch vor einer Lösung durch „Blut und Eisen“ nicht zurückschreckender Energie. und derselbe Bismarck, in dem man bisher nur den Anbeter des nacktesten Absolutismus erblickt hatte, der die Fesseln des constitutionellen Systems nur unwillig zu dulden schien, näherte sich jetzt den Liberalen, indem er einen Act der Selbstüberwindung beging, wie er in der Geschichte parlamentarischer Verfassungskämpfe gewiß selten, ja vielleicht ohne Gleichen ist. Statt nämlich den gewaltiger Umschwung in der Stimmung des Landes, den die glänzenden Kriegsthaten von 1866 hervorgebracht, zu benutzen, um durch Auflösung des ihm feindlichen Abgeordnetenhauses und Veranstaltung von Neuwahlen sich eine parlamentarische Mehrheit zu sichern, vielleicht sogar mit deren Hülfe einschneidende Veränderungen in der Verfassung vorzunehmen - statt diese Gewaltacte auszuüben, trat er vor die Volksvertretung mit dem Bekenntniß: „die Regierung habe allerdings in den letzten Jahren außerhalb der Formen der Verfassung sich bewegt, allein sie habe dies gethan aus höheren Rücksichten auf das Interesse Preußens und Deutschlands.“ Und auf Grund dieses Eingeständnisses forderte er eine sogenannte „Indemnität“, das heißt die nachträgliche Entlastung des Ministeriums von der dadurch auf sich genommenen Verantwortlichkeit durch ein Votum der Kammern.

Das war die Geburtsstunde der nationalliberalen Partei in Preußen. Damals trennte sich die preußische Fortschrittspartei in Solche, welche trotz alledem in ihrer Gegenstellung zu Bismarck verharrten und die von ihm den Liberalen gereichte Hand der Versöhnung zurückwiesen, und in Solche, welche diese Hand annahmen, weil ihnen dadurch die Möglichkeit geboten schien, an dem Ausbau des, wenn auch ohne ihr Zuthun zu Stande gebrachten preußisch – deutschen Bundesstaates mitzuarbeiten. Diese Letzteren schieden sich vom ihren bisherigen Kampfesgenossen in der Fortschrittspartei und bildeten fortan eine neue Parteigruppe , die „nationnalliberale“.

Von den beiden Gründern der „deutschen Fortschrittspartei“ trat der eine, Herr von Forckenbeck, auf die Seite der neuen Partei hinüber und ward einer ihrer vornehmsten Leiter und Vertreter, während der andere, Herr von Hoverbeck, an der Spitze der Fortschrittspartei verblieb. Auch einer der ältesten preußischen Parlamentarier, Herr von Unruh, in der kritischen Periode kurz vor der Auflösung der constituirenden Nationalversammlung 1848 deren Präsident, schloß sich der neuen Partei an, ebenso andere Abgeordnete von bekannten Namen und bewährtem Liberalismus. Auch ein Mann, der erst im Jahre vorher in's Abgeordnetenhaus eingetreten war, dort aber rasch eine hervorragende Stelle in der Fortschrittspartei eingenommen hatte, nachdem er zuvor als Schriftsteller mit nachdrücklicher Beredsamkeit für die Freiheiksrechte des Volkes eingetreten, Eduard Lasker, trennte sich jetzt von seinen bisherigen Genossen und bekannte sich zu der Fahne der neuen Vereinigung.

Dieser Kern der nationalliberalen Partei, der durch Ausscheidung aus der Fortschrittspartei sich gebildet, erhielt alsbald starken Zuwachs aus denn neu aufgenommenen preußischen Provinzen Hannover, Nassau, Hessen. Rudolph von Bennigsen und Johannes Miquél, beide die Führer der staatsrechtlichen Opposition in Hannover gegen das Ministerium von Borries, beide die Mitbegründer, Bennigsen der Vorsitzende des deutschen Nationalvereins, Friedrich Oetker, der unermüdliche Vorkämpfer der Kurhessen seit der schmachvollen Vergewaltigung dieses rechts- und verfassungstreuen Volkes durch den Rumpfbundestag im Jahre 1850, Karl Braun, der mehrjährige Präsident der nassauischen Volkskammer und permanente Vorsitzende des Congresses deutscher Volkswirthe - solche und ähnliche Männer brachten der neungebildeten Partei das Gewicht ihrer Namen und die Fülle vielseitiger, reicher Erfahrungen auf parlamentarischem, politischem, wirthschaftlichem und finanziellem Gebiete, zugleich auch eine Anzahl zum Theil gleich was bedeutender Kampfgenossen, die ihrem Vorgange folgten, als Morgengabe zu.

Im Reichstage sodann, erst im norddeutschen, später im gesamtdeutschen, verstärkte sich die nationalliberale Partei durch eine Reihe erprobter Kräfte und vielbekannnter Namen aus den übrigen Bundesstaaten. Die anerkannten Führer der vereinigten liberalen Partei in Baiern (dort „Fortschrittspartei“ genannt), Marquard Barth, Freiherr von Stauffenberg , Marquardsen und Völk, die der „deutschen Partei“ in Württemberg, Hölder, Römer, Weber, Elbin, die der nationalliberalen Partei in Sachsen, Biedermann, Stephani, Georgi, Gensel; ebenso aus Baden der ehemalige Minister Lamey, Kieser u. A., ferner der Präsident des weimarischen Landtages Fries, der Präsident der altenburgischen Landschaft Wagner, der Braunschweiger Bode, der alte Freiheitskämpfer Metz aus Darmstadt, der Verfechter zeitgenössischer Reformen in dem feudalen Mecklenburg, die beiden Pogge, Büsing, sowie der bekannte Theolog M. Baumgarten, die Hanseaten H. H. Meier und Wolfson und noch viele andere theils durch ihre politische Vergangenheit in denn Vertrauen weiter Bevölkerungskreise tiefgewurzelte, theils durch Berufs- und Lebenserfahrungen, durch Scharfsinn, Sachkenntniß, Beredsamkeit ausgezeichnete Männer traten der Partei bei und hielten, so lange sie im Reichstage saßen, an ihr fest. Auch der Präsident Simson, schon in Frankfurt ein Mitbegründer der Erbkaiserpartei, gehörte seiner politischen Denkart und Gesinnung nach ihr an, wem auch seine Stellung an der Spitze des Reichstags ihn verhinderte, als eigentliches Mitglied der Fraction zu figuriren.

Von den vier Männern, die wir als Repräsentanten der heutigen nationalliberalen Partei unseren Lesern im Bilde vorführen, sind zwei, von Bennigsen und von Benda, gleichzeitig Mitglieder des Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses von Bennigsen war von 1873 an bis zu der Katastrophe von 1879 erster Präsident des Abgeordnetenhauses, wie er früher im Norddeutschen Reichstage neben Simson, dem Manne der Wahl nicht einer einzelnen Partei, sondern des ganzen Hauses, als Vicepräsident seine Partei im Directorium vertreten hatte. Er ist seit der Secession der unbestritten maßgebende, ja der einzige die Partei nach außen vertretende Führer der nationalliberalen Fraction zugleich als „Landesdirector“ Hannovers ein wichtiger und einflußreicher Factor der Setbstverwaltung dieser Provinz; von Benda, Rittergutsbesitzer auf Kudow in der Altmark, ward zum Vicepräsidenten des Abgeordnetenhauses gewählt, nachdem die Besetzung dieser Stelle durch ein Mitglied des Centrums, wie sie im vorigen preußischen Landtage stattgefunden, wegen des Verhaltens der Ultramontanen beim Kölner Dombaufeste selbst von einem Theile der Conservativen als nicht mehr statthaft befunden ward.

Miquél und Hobrecht sind lediglich Mitglieder des Abgeordnetenhauses. Miquél hat, zum großen Bedauern seiner Parteigenossen, seinem Reichstagsmandate entsagt, seitdem er in die allerdings ihn wohl sehr in Anspruch nehmende Oberbürgermeisterstelle in [227] Frankfurt a. M. aus der minder mühevollen gleichen Stellung zu Osnabrück übergetreten ist. Er war im Reichstag nächst Bennigsen der Hauptführer des sogenannten „rechten Flügels“ und mit seiner schneidigen Schärfe eine Art Ergänzung des mehr vermittelnden Bennigsen. Als unvergeßliches Verdienst begleitete ihn aus seiner reichstäglichen Wirksamkeit seine vortreffliche Führung des Vorsitzes in der Zwischencommission des Reichstages zur Vorberathung der großen Justizgesetze. Hobrecht ist, nachdem er als Oberbürgermeister, erst Breslaus, dann Berlins, sich als tüchtiger Verwaltungsmann bewährt, nach kurzer Wirksamkeit als preußischer Finanzminister in die Reihe der Volksvertreter eingetreten und hat bereits mehrmals in wichtigen Fragen die Sache der nationalliberalen Partei, der er sich angeschlossen, mit ruhigem Nachdruck erfolgreich verfochten.

Lange Zeit war die nationalliberale Partei nicht allein die zahlreichste Fraction des Reichstages – auf ihrem Höhepunkte zählte sie 150 Mitglieder von den im Ganzen ungefähr 400 der Versammlung – sondern auch wohl die an Talenten und an allgemein bekannten Namen hervorragendste. Besonders reich war sie auch an sogenannten Specialitäten: waren doch für Rechtsfragen Männer wie Gneist, Rönne, Beseler, R. von Mohl, Hinschius anerkannte wissenschaftliche Autoritäten, während Lasker, Miquel und Andere vom Standpunkte praktischer Rechtserfahrung ebenfalls wirksam eingriffen. In die verschiedenen Gebiete des wirthschaftlichen Lebens, die Zoll- und Steuer-, die Bank- und Währungsfrage und Aehnliches, theilten sich Braun, Bamberger, Unruh, Schauß, Michaelis (ehe dieser in den Reichsdienst übertrat) und Andere, und die großen Anliegen des Welt- und Seehandels vertraten die hanseatischen Mitglieder der Partei. Für eine gesunde Entwickelung der landwirthschaftlichen Interessen, aber nicht in einseitig agrarischem Sinne, wirkten von Benda, Sombert, Birnbaum, anährend in Fragen der hohen Politik von Bennigsen der regelmäßige Wortführer der Partei war.

Als Mittelpartei zwischen der Gruppe der Rechten und der Linken hatte die nationalliberale Fraction bei allen Fragen, wo es sich um einen Gegensatz dieser Richtungen handelte, die ausschlaggebende Entscheidung. Sie war es, die bei der Feststellung der Verfassung das so überaus wichtige Amt der Vermittelung zwischen den in der Regel sehr auseinandergehenden Anträgen und Forderungen der Rechten und der Linken übernahm. Ihr hauptsächlich war das Zustandekommen der Gewerbe-Ordnung, ihrem beharrlichen Andringen war die Durchsetzung der großen Justizgesetze selbst gegen den anfänglichen Widerspruch der Regierung in erster Linie zu verdanken. Im Allgemeinen kann man sagen, daß von den vielen wichtigen und dringenden Reformen, welche in den nunmehr vierzehn Jahren des Bestehens eines deutschen Bundesstaates durch Vereinbarung des Reichstages mit der Regierung in's Leben traten, keine ohne oder gegen sie, die allermeisten aber in Folge entweder ihrer Initiative oder doch ihres kräftigen Eintretens dafür zu Stande kamen. Das Gleiche gilt von der großen Verwaltungsreform und anderen wichtigen Gesetzen in Preußen.

Das Verhältniß der Partei zu dem leitenden Staatsmanne, Fürsten Bismarck, war ein derartiges, daß sie, bei voller Wahrung ihrer Unabhängigkeit als Partei und der Ueberzeugungen ihrer Mitglieder, ihn doch in allen wichtigen Fragen im Großen und Ganzen unterstützte, wogegen der Fürst wiederum ihr bei der Aus- und Durchführung seiner Absichten vielfach ein weitgehendes Entgegenkommen zeigte.

Diese Stellung der Nationalliberalen als einer Mittelpartei, welche zwar durch ihren Hinzutritt eine entscheidende Majorität zuwegebringen, für sich allein aber doch Nichts durchsetzen konnte, machte es nothwendig, daß sie, im Gegensatze zu der stets auf dem Standpunkte des Princips beharrenden „Fortschrittspartei“, öfter nach einer oder der andern Seite hin Vereinbarungen oder Verständigungen suchen, sogenannte „Compromisse“ eingehen mußte; sie behielt dadurch mit den gemäßigten Elementen der Rechten, besonders mit der ihr nicht allzu fern stehenden freiconservativen Partei, Fühlung.

In den ersten Jahren ihres Bestehens, bis nahe an das Ende ihres ersten Jahrzehnts, so lange der frische Schwung und Trieb des Lebens in den neuen großartigen Verhältnissen ungeschwächt wirksam blieb, hielt die nationalliberale Partei fest in sich zusammen – trotz der Schwierigkeiten, mit denen eine numerisch so starke Genossenschaft immer in Bezug auf die Wahrung einer einheitlichen Taktik und Disciplin zu kämpfen hat. Allmählich aber entstanden innere Conflicte und daraus hervorgehende Schwankungen der Partei. Schon bei dem Militärgesetz (1875) war eine solche Schwankung vorübergehend eingetreten; doch hatte die Partei damals noch im letzten Augenblicke sich auf ihren traditionellen Standpunkt, den einer streng nationalen, vor Allem die Sicherheit des Gesammtvaterlandes in’s Auge fassenden Politik zurückgezogen. Auch bei den großen Justizgesetzen hielt sie fest an der Maxime, um der Erreichung eines großen Ganzen willen im Einzelnen Opfer selbst an ihren liebsten Wünschen zu bringen. Sie ward um dieser ihrer Haltung willen nicht blos im Reichstage heftig bekämpft, sondern auch außerhalb desselben in der öffentlichen Meinung vielfach angegriffen und als unfreisinnig oder charakterlos hingestellt.

Die daraus erwachsende immer schärfere Trennung von der Fortschrittspartei fiel natürlich denen am schwersten, welche vordem selbst der letzteren angehört hatten, gewissermaßen Fleisch von deren Fleische gewesen waren und es mit einem Theile ihrer Sympathien noch waren. Es waren darunter mehrere gerade der talentvollsten und namentlich der beredtesten Mitglieder der nationalliberalen Partei, ja einzelne ihrer hervorragendsten Wortführer. So kam es, daß man allmählich nicht ganz mit Unrecht von einem „rechten“ und einem „linken“ Flügel der Partei sprechen konnte. Als Führer des ersteren galt Lasker, als der des letzteren von Bennigsen. Bezeichnend war, daß der erstere sich vorzugsweise aus den alten preußischen Provinzen recrutirte, während die Hannoveraner, die Hessen und der größere Theil der außerpreußischen Mitglieder meist zu Bennigsen hielten.

Im Jahre 1877 schien Fürst Bismarck engere Fühlung mit den Nationalliberalen nehmen zu wollen. Er hatte damals schon den Plan gefaßt, durch Vermehrung der indirecten Abgaben die Finanzen des Reichs zu stärken und das Reich in Bezug auf seine Einnahmen unabhängiger von den Einzelstaaten zu stellen. Für die Durchführung dieses Planes gedachte er eine große, compacte Regierungspartei zu bilden. Zu dem Ende wollte er die Nationalliberalen in der Person ihres Führers von Bennigsen sich an der Regierung selbst betheiligen lassen, wie er dies mit den Freiconservativen bereits gethan hatte; er wollte Herrn von Bennigsen einen Sitz im preußischen Ministerium geben.

Eine vertrauliche Unterredung zwischen beiden Männern fand zu Varzin, auf dem Gute des Fürsten Bismarck, statt, wohin auf dessen Einladung Herr von Bennigsen sich begeben hatte. Die Einzelheiten dieser Unterredung sind zur Zeit noch in das Dunkel des Geheimnisses gehüllt. Auch die Ursachen, wegen deren die versuchte Verständigung scheiterte, lassen sich mit völliger Sicherheit nicht erkennen; doch es ist wahrscheinlich, daß die Schwierigkeiten hauptsächlich von den dem linken Flügel angehörigen Freunden Bennigsen’s und Mitleitern der Partei ihren Ausgang nahmen und daß von dieser Seite her namentlich gewisse, an sich vollkommen berechtigte, constitutionelle Bedenken in Bezug auf die Verwendung der bei Mehreinnahmen des Reichs in Preußen flüssig werdenden Staatsgelder in einer Schärfe geltend gemacht wurden, welche zum Abbruch der Verhandlungen führten – Bedenken, deren Erledigung später, durch ein Uebereinkommen der preußischen Regierung mit ihrem Landtage, in Folge beiderseitigen Entgegenkommens ohne viel Mühe gelang.

Dieser Bruch der Nationalliberalen mit Bismarck hatte die Folge, daß der Fürst, der fest entschlossen war, seine Finanzpläne durchzusetzen, seine Bundesgenossen nun anderwärts suchte. Eben damals hatte, in Folge der andauernden Verkehrsstockung, welche auf die Ueberstürzungen der Gründerperiode gefolgt war, eine rückläufige Strömung auf handelspolitischem Gebiete in den Kreisen der Industriellen begonnen. Man forderte wirksameren Schutz der nationalen Arbeit. Die nationalliberale Partei hatte von jeher grundsätzlich die handelspolitischen Fragen von ihrem eigentlichen Parteiprogramm ausgeschlossen. Offenbar war es nicht wohlgethan, daß sie diese Fragen als somit gewissermaßen außerhalb ihres Bereiches stehend betrachtete und gegen die von daher drohende Gefahr die Augen verschloß. Die handelspolitischen Interessen sind heutzutage von einer so großen Bedeutung, daß eine politische Partei schwerlich, auf die Länge sich eine auch nur principielle Betheiligung daran versagen kann. Hätte die nationalliberale Partei jene Bewegung gleich in ihren Anfängen mehr beachtet, so hätte sie möglicher Weise mit einem mäßigen Zugeständniß an dieselbe deren weiteres Umsichgreifen verhindern können. Nun aber ergriff die Bewegung allmählich alle industriellen Kreise, [228] schließlich auch die der Landwirthe, und so bildete sich eine Macht, welcher die freihändlerische Richtung, in die der Zollverein seit dem Handelsverträge mit Frankreich eingelenkt hatte, mit der Zeit nicht widerstehen, konnte. Die Schutzzöllner und Agrarier boten bereitwillig dem Reichskanzler ihre Unterstützung für seine Finanzpläne an, wogegen sie die Aufnahme von Schutzzöllen auf Industrieproducte und auf Naturprodukte, also auch auf Lebensmittel, in die Reihe der zu erhöhenden Steuern verlangten.

So entstand, da auch das Centrum, theils aus Rücksicht auf seine großentheils industriellen Wählerschaften (in Rheinland, Westfalen, Schlesien), theils in der stillen Hoffnung auf Gegenconcessionen seitens des Reichskanzlers auf kirchenpolitischem Gebiete, in dieser Richtung mitging, eine Coalition zwischen diesem und den Conservativen für diesen bestimmten Zweck, eine vom höheren politischen Standpunkte aus allerdings unnatürliche Majorität, die aber doch, da eben augenblicklich die finanz- und handelspolitischen Fragen die Situation beherrschten, die nationalliberale Partei in die ihr ganz neue Lage einer Minoritätspartei versetzte.

Inzwischen war diese Lage der nationalliberalen Partei auch noch von anderer Seite her, wiederum nicht ohne deren Schuld, verschlimmert worden. Im Jahre 1878 fanden die beiden fluchwürdigen Attentate auf Kaiser Wilhelm statt. Sogleich nach dem ersten derselben legte die Regierung dem Reichstage ein Gesetz gegen die Socialdemokratie vor. Die Vorlage hatte große Mängel und konnte so, wie sie war, wohl kaum angenommen werden. Allein die Nationalliberalen, abweichend von ihrer vieljährigen Praxis, wonach sie immer unvollkommene Gesetze durch Verbesserung annehmbar zu machen wußten, verhielten sich diesmal rein ablehnend, und einzelne ihrer Redner, die man als Wortführer der Partei anzusehen gewohnt war, erklärten sich ziemlich entschieden überhaupt gegen jede Art von Ausnahmegesetzen in dieser Materie. Da erfolgte das zweite Attentat. Die Regierung, statt einen nochmaligen Versuch beim Reichstag zu machen, löste diesen auf und veranstaltete Neuwahlen.

Wie vorauszusehen, ergaben diese ein den Conservativen günstigeres Resultat, als früher; insbesondere erlitt der linke Flügel der Nationalliberalen starke Einbußen, aber auch die Partei im Ganzen sah sich in ihrem numerischen Bestände empfindlich geschwächt. Gleichzeitig dauerten die Schwankungen in ihrem Innern fort, da ein Theil ihrer Mitglieder mehr oder weniger schutzzöllnerischen Ansichten zuneigte, während der andere an den freihändlerischen Principien festhielt. Eine weitere Ursache des Conflictes bildete im preußischen Abgeordnetenhause die Kirchenfrage. Das sogenannte kirchenpolitische Gesetz, durch welches eine factische Milderung der Maigesetze in einzelnen Punkten – unter gewissen Bedingungen – ermöglicht werden sollte, fand bei der Schlußabstimmung die nationalliberale Partei in zwei nahezu gleiche Hälften getheilt. Schon vorher hatte bei Gelegenheit der Finanz- und Steuerfragen im Reichstage der Austritt einer Anzahl von Mitgliedern aus der nationalliberalen Partei nach rechtshin stattgefunden; unter ihnen befanden sich mehrere sehr namhafte Männer, wie Völk, Hölder, von Schauß, von Treitschke und Andere. Jetzt trat eine noch größere Zahl nach linkshin aus, die sogenannten „Secessionisten“ (siehe „Gartenlaube“, 1880, Nr. 48), sodaß die Zahl der Nationalliberalen nunmehr weniger als siebenzig beträgt, weit unter der Hälfte des Bestandes der Fraction in deren bester Zeit. Als ein Vortheil, den die Partei wahrscheinlich um den Preis dieser Trennung des „linken Flügels“ von: „rechten“ erlangt hat und der wenigstens in der letzten Session des preußischen Abgeordnetenhauses bereits sichtbar geworden ist, erscheint das festere Zusammenhalten der nicht mehr durch innere Spaltungen und Schwankungen hin- und hergeworfenen Partei.

Ob und wieweit die nächsten Neuwahlen zum Reichstage auch ihre numerische Stärke wieder erhöhen werden, bleibt abzuwarten. Das Programm, auf dem sie nach wie vor steht und das sie auch nicht fallen lassen darf, wenn sie nicht ihren Ursprung und ihre Vergangenheit verleugnen will, faßt sie dahin zusammen: trotz voller Unabhängigkeit doch die Regierung bei allen den Ausbau des Reiches und die zeitgemäße Entwickelung seiner Einrichtungen fördernden Maßregeln nach Kräften zu unterstützen, die Grundsätze wahrer Freiheit, wo solche in Frage gestellt sind, zu vertheidigen, aber, von planmäßiger Opposition fern, immer eine möglichst positive, praktische, schaffende Politik zu verfolgen.